Als mein Kollege Jan Müller-Wieland einmal als junger Student in Darmstadt zu Besuch war, fragte ihn ein gestrenger Dozent: „In Ihrem Klavierstück, nach diesem langen Tremolo, wiederholen Sie das exakt gleiche Tremolo eine Oktave höher. WARUM AUSGERECHNET EINE OKTAVE???“. Jan zögerte nur kurz und sagte dann trocken: „Weil ich es so gewollt habe“.
Natürlich ist es wahrscheinlich unmöglich, auf eine solch dumme Frage eine kluge Antwort zu geben – außer man benutzt irgendein Tonsystem oder einen Algorithmus, der einem die kompositorischen Entscheidungen abnimmt. Aber auch die Antwort „ich habe es so gewollt“ hat es natürlich in sich. Denn wenn der Kompositionsstudent auf jede Frage oder Kritik des Lehrers mit „ich habe das so gewollt“ antwortet, wird der Lehrer an sich überflüssig und muss eigentlich gar nichts mehr sagen.
Die eigentliche Aufgabe des Lehrers besteht natürlich darin, immer wieder das „Wollen“ des Schülers zu hinterfragen.
Bei diesem Hinterfragen muss man natürlich auch mal dumme Fragen stellen, wie „willst Du wirklich hier nur ein mf? Muss es hier wirklich noch einmal 100 Takte im gleichen Stil weitergehen? Muss das Stück sich wirklich 2 Minuten lang erst einmal finden, oder könnte es nicht einfach erst NACH diesen 2 Minuten losgehen? Willst du wirklich diese Tonfolge nie variieren, sondern immer gleich wiederholen?“
Für den Lehrer ist das eine Art Seiltanz, denn der Student ist natürlich mit so einem neuen Stück (das meistens noch gar nicht fertig, sondern im Entstehungsprozess ist) keineswegs sicher, ist auch mal beleidigt, wenn man seine Absicht in Frage stellt. Hier teilen sich die Studenten schnell in mehrere Gruppen. Es gibt die Coolen, die jede Kritik locker wegstecken, es dann aber doch so machen wie sie wollen (was vielleicht gar nicht so schlecht ist, denn wirklich zu wissen, was man will, ist schon mal was). Genau diesen Studenten entgehen aber auch oft neue Einsichten, die sie weiterbringen könnten, und oft verharren sie in immer gleichen Ansätzen und entwickeln sich nicht. Man muss also Kritik nicht nur akzeptieren sondern auch umsetzen können.
Dann gibt es die eher mimosenhaft veranlagten, die jede Kritik persönlich nehmen, meistens, weil sie sich ihrer Sache selber nicht sicher sind. Diese muss man sehr vorsichtig behandeln, denn sie können zwar einerseits Kritik umsetzen, machen aber auch sehr schnell komplett zu, wenn sie sich überfordert fühlen. Ich vergleiche sie mit zarten Pflänzchen, die – wenn sie richtig gehegt werden – schöne Blüten hervorbringen. Denn sowohl Scheitern als auch Zaudern sind natürlich ebenso Teil einer künstlerischen Entwicklung wie Wagemut und Unbekümmertheit.
Natürlich erinnert man sich dann auch an sich selber in ähnlicher Situation. Man selber haderte ja auch – mit sich, mit dem Beruf, mit den Tönen, mit allem. Bestimmte Fragen eines Lehrers nervten einen kolossal, Jahre später verstand man aber nur zu genau, wie Recht er hatte. Manchmal sitze ich heute noch am Klavier und verstehe erst jetzt etwas, was mir ein Lehrer vor 30 Jahren zu erklären versuchte. Weil er diesen einen Satz, diese eine Formulierung benutzt hat, die mir im Gedächtnis geblieben ist.
Solche Sätze versuche ich zu schmieden. Und das Schönste für mich ist, wenn ein Student auf eine dumme Frage von mir ... eine sehr kluge Antwort hat.