Die musikalische Avantgarde steht fest mit beiden Beinen in der Vergangenheit. Zumindest was die Themen und Texte betrifft. Die meisten Libretti lesen sich, als seien sie aus der Werkstatt des Guido Knopp: „History”, mit dem entsprechenden raunenden Unterton – Aufklärung für ein Publikum, das ansonsten seine Menschenkenntnis gerne aus „People”-Magazinen bezieht.
Dereinst, wenn das windschnittige „G 8”-Gymnasium erst auf „G 7”- oder „G 6”-Niveau geschrumpft und garantiert frei von allem Bildungsballast ist, kann man sich die verloren gegangene Vorgeschichte in Kammeropern-Abenden wieder aneignen. Die Avantgardisten, die einst alles wegräumten, was die eigene Vision störte, sind nämlich längst Archivare geworden. Wenn sie „sprechen”, kommt nicht Unerhörtes zu Ohren, sondern werden die gerade modischen Mythen recycelt. Und die ewige Wiederkehr rauscht durch einen hindurch, aufgepeppt und hochfrisiert, als handele es sich um den jüngsten Tag.
Allein ein bekennender Avantgardie und Doktor honoris causa der Musen wie Franz Hummel hat sich – nur eine kleine unvollständige Aufzählung! – beschädigten Heroen der Moderne wie Joseph Beuys und Michail Gorbatschow gewidmet, sich in uraufführungsfreudigen Stadttheatern heiligen Monstern wie Gesualdo genähert, der beim Komponieren noch blutige Tatzen bekam und dessen kurzes Dasein tragisch endete, als blicke einem bei solchem Tun das eigene Tiefen-Ich entgegen, und landete schließlich, ganz konsequent, beim Tschingderassabum-Requiem auf einen jungfräulichen König: Ludwig II. im Musicalformat als letzter Vorposten der Avantgarde. Nicht nur die Kammeroper bietet einen Ort, wo Wünsche noch helfen und jeder einen Schuss frei hat.
Die Zukunft als Bestiarium all der gefallenen Helden der Vergangenheit, die im Glanz der Dissonanzen plötzlich dem Vogel Phönix ähneln, der sich aus der Asche erhob. (Da fällt mir ein, Hummel widmete einst ein ambitioniertes Konzert dem Urvogel Archaeopteryx.) Im Licht der Partitur – und ihrem Zwilling, der Skizze fürs Tanztheater – wird gerettet, was nicht zu retten ist: Selbst die Rote Armee Fraktion komt so radical chic und mit solchem existenziellen Ernst und Pathos daher, dass Ernst Jünger die längst sprichwörtliche Erdbeere im Hals stecken bleibt und auch mit einem Schluck Champagner nicht hinuntergespült werden kann; und aus „Hannelore Kohl” wird so eine Art Schnelldurchlauf der jüngsten deutschen Geschichte, abendunterhaltungskompatibel.
Berühmte Namen helfen bei der zahlungskräftigen Kundschaft, auch und gerade in Amerika. Deshalb ist auf der sicheren Seite, wer Nixon nach China begleitet oder sich mit Einstein am Strand suhlt. Und: Die heißen Themen der Vergangenheit sind kalt geworden; man kann sich nicht mehr so leicht die Finger verbrennen. Der Mut ist gratis, eine Pose, die einem steht.
Man erwartet ja von der Avantgarde nicht, dass sie hellseherisch um alle Zukunftsecken blickt. Aber muss es unbedingt so penetrant „retro” sein, man wäre ja schon mit ein bisschen Gegenwart zufrieden. Aber solange es eine unvertonte Skizze von H.C. Artmann gibt oder die unveröffentlichte Version eines Celan-Gedichts, die noch nicht durch Kollegenhand gegangen ist, besteht offenbar wenig Hoffnung. Oder?
Ein wenig frische Luft weht immerhin durch die Skulpturenparks und Pavillons der Bildenden Kunst, der man ja auch lange vorgeworfen hat, dass ihr nichts Neues mehr einfällt. Tino Sehgal etwa, deutscher Beiträger zur Venediger Biennale und noch keine Dreißig, macht sich Gedanken darüber, wie man Kulturprodukte am Patina-Ansetzen hindern kann und er kann das, was ihm durch den Kopf geht, auch noch so formulieren, dass man aufhorcht.
Ein ZEIT-Gespräch mit dem Philosophen und nimmermüden Begriffs-Koch Peter Sloterdijk, das er flugs zum Teil seines offenen Werks erklärt („Achtung, Fluxus!”), leistet etwas, woran sich heutzutage kein Politiker herantraut und was Wissenschaft und Medien gern mythisch verbrämen: das Nachdenken über die „Zukunft der Arbeit”. Was das mit Kunst, gar mit Musik zu tun hat? Sehr viel. Denn erstens werden alle Musen hässlich und verschrumpeln, wenn man sie zur Lüge zwingt. Und es wird viel gelogen, wenn es um „Arbeit” geht. Und zweitens könnte es, jenseits des Mythen-Recyclens und Selbstbeweihräucherns, künstlerisch aufregend werden, wenn erst klar ist (und auch klar ausgesprochen wird!), dass es mit der Arbeit, so wie wir sie kennen, unwiderruflich zu Ende geht, dass der Mensch in Zukunft nicht mehr ressourcenverschleißender Titan der Technik und Herr der Erde sein wird, sondern auf andere Art mit sich selbst und all den anderen zurecht kommen muss.
Da lauert viel Wut, da werden im schwierigen Übergang Monstren unterwegs sein, gegen die selbst ein Gesualdo wie ein längst verschimmelter Softie wirkt. Aber es gibt, diesseits des Untergangs, auch die Möglichkeit zu einem poetischen, träumerischen Neuanfang. Tino Sehgal hat darüber gesprochen, auch darüber, dass dann „Produktion” und „Deproduktion” wie Ein- und Ausatmen sein werden.
Vermutlich wird er vorläufig nur wenig Gehör finden. Im beginnenden Wahlkampf wird zwischen Mindestlohn und Lohndrückerei über die „Zukunft der Arbeit” so gesprochen werden, als gehe es darum, die Gespenster der Vergangenheit neu zu beleben. Und die Avantgarde-Komponisten werden weiterhin versuchen, in den Archiven Beute zu machen – auf dass die Konkurrenz vor Neid erblasse; oder sollte es doch nur der Staub des Vergangenen sein, der alle einträchtig bedeckt.