Unser Hamburger Jazz-Lehrbetrieb fußt seit 1985 auf einem „Zwei-Säulen-Modell“: Neben den Jazzfächern Instrumentales Hauptfach, Theorie (Harmonielehre, Improvisation, Arrangement, Komposition), Rhythmusschulung (mit Gehörschulung/Ear Training), Jazzgeschichte/Werkanalyse und Ensemblespiel haben die Studierenden fast alle klassischen Fächer zu absolvieren, wie sie auch für „nur klassische“ DML-Studenten verbindlich sind, vor allem aber kommen sie in den Genuss von klassischem Unterricht im instrumentalen Hauptfach über sechs Semester, immer noch eine Besonderheit im Rahmen der Jazzprogramme fast aller deutschen Musikhochschulen. Ziel des klassischen instrumentalen Hauptfaches ist ästhetische Kenntnis und individuell größtmögliche technische Beherrschung des Instruments im Bereich der großen westlichen Tradition, bei verständlicherweise stark eingeschränkter Repertoiremenge. (Dazu als Anmerkung: Unsere Jazz-Ausbildung läuft derzeit unter ,DML‘, ist aber de facto ein künstlerischer Studiengang).
Warum nicht auch eine kleine,aber feine‘ zweite Säule in der klassischen Ausbildung? Grundkenntnisse der Jazzpraxis wären für alle Musikstudierenden wünschenswert: Schulmusik- und DML-Studierende haben es in ihrer Alltagspraxis mit eingeschworenen MTV/VIVA-Hörer/-innen zu tun.
Es wird einiger Kenntnisse und auch taktisch-rattenfängerischer Fähigkeiten bedürfen, um das Hörfeld der Jungs und Mädels und deren ,Musikgeschichtsbild‘ zu erweitern – statistische Erhebungen bezüglich der Hörgewohnheiten Jugendlicher zeigen ja den prägenden Einfluss der mit größtem Werbeaufwand kommerziell instrumentalisierten Popmusik.
Alle Studierenden in den künstlerischen Ausbildungsgängen (Klavier, Orgel, Orchesterinstrumente, vielleicht auch Gesang?) sollten zumin-dest eine Ahnung der sogenannten Jazz/Rock-Phrasierung bekommen können, wenn sie sich schon nicht auf den mühevollen Weg der Erlernung eines lmprovisationsvokabulars aus eigenen Stücken gedrängt fühlen.
Vorbehalte der klassischen Fraktion, wie: Saxophonspielen zerstöre den Klarinettenansatz (natürlich empfiehlt es sich nicht, bis 19.30 Uhr Baritonsaxophon zu üben, wenn man um 20.00 Uhr das Klarinettenkonzert von Mozart spielen will), der klassische Ton der Blechbläser wäre durch den Jazz-attack gefährdet, Pianisten versteiften sich im Handgelenk durch das Jazzspielen (na net, wann‘s ka Technik habn) halten sich seit Jahrzehnten, gehören aber ins Reich der Fabel und sind durch Könner, sozialisiert in beiden Bereichen, widerlegt.
Von zeitgenössischen Komponist/-innen und Theoretiker/-innen müsste eine wenigstens theoretische Beherrschung des umfangreichen Jazz/Rock/Pop-Materials erwartet werden können. Bedauerlicherweise haben viele Professoren-Kolleginnen und -Kollegen erfahrungsgemäß mit Jazz „nichts am Hut“. Ausnahmen bestätigen die Regel, etwa diejenigen Besucherinnen und Besucher der FORUM-Jazzkonzerte, die über die Jahre an den Fingern beider Hände abgezählt werden können. (Selbst diese machen vom großen qualitätvollen Angebot in der Hamburger Szene außerhalb der Hochschule kaum Gebrauch).
Zur emotionalen Beruhigung sei gesagt: Es geht ja nicht darum, ansozialisierte ästhetische Haltungen bei fortgeschrittenem Alter zu revolutionieren, etwa unter dem Motto ,weg mit Brahms oder Ligeti, alles für Coltrane‘, wohl aber ginge es um Behebung von Ignoranz im Sinne von Nichtwissen, vielleicht zur eigenen Bereicherung, sicherlich aber zum Nutzen der Studierenden. Die Möglichkeit, auf kommerzielle Banalitäten hereinzufallen, wäre vermindert. Kenntnisse auf dem Gebiet von Jazz und jazzverwandter Musik wären auch ein Zeichen von zeitgenössischer Professionalität.
Improvisation ist das Kernstück im Bereich des Jazz. Unsere ,wirklichen‘ Klassiker, nicht nur von Beethoven aufwärts, haben alle improvisiert. Die Gründe, warum sich das lmprovisieren im Verlauf des 19. Jh. verflüchtigt hat – sogar die Kadenzen in den großen Instrumentalkonzerten wurden letztlich ausgeschrieben – wurden in musikwissenschaftlicher Arbeit herauskristallisiert. Seither gilt in der Hauptsache Komposition, mit Papier, Bleistift, Radiergummi und Tinte, neuerdings auch mit Computer.
Die Unterscheidung von ‚Kreation‘ und ,Interpretation‘ steht immer noch auf der Tagesordnung: Interpretiert wird die komponierte Musik, die in den Köpfen und Herzen anderer Menschen entstanden ist, und sie muss weiterhin auf höchst meisterhafte Weise interpretiert werden. Improvisation als kreativer Akt auf welchem Materialniveau auch immer, ermöglicht ein eigenes Tun, etwas in die Welt zu setzen, was es ,so‘ noch nicht gab. (Dass auch auf diesem Sektor die imaginäre Bruchlinie zwischen ‚Mainstream und Avantgarde‘ heftig debattiert wird, sei nur nebenbei erwähnt). Dazu kommt der kommunikative Aspekt: Jazz ist zu allererst interaktive improvisierte Kammermusik!
Eigenes kann entstehen, ohne puristischen Zwang zum experimentell Neuen. Damit verbunden ist bei manchen die Hoffnung auf eine Veränderung der Dinge durch eine herausfordernde Veränderung der Kunst, „Vielleicht dass eine Formel gelingt, die etwas bewirkt“ (Ernst Jandl). Diejenigen, die die goldenen Köpfe der Klassiker und jeglicher Normen verteidigen, sind die Zielscheibe, wenn mit Mitteln der Kunst die Vorstellung von Normalität vorsätzlich und lustvoll zerstört wird. Nicht die Tradition wird zerstört, zu ihr besteht ein dynamisches Verhältnis. Dazu gehört, sie zu kennen, zu wissen, was bisher geschah, die passenden Ansatzpunkte für Eigenes zu finden, nicht zu Ende Geführtes auszubauen. Eine neue Musik, wenn sie Bedeutung hat, ändert die eigenen Vorstellungen von Kunst und Leben.
Auch die Jazzer/-innen sind daran, zahlreich und gleichzeitig sich ein eigenes Modell von Freiheit zu zimmern, Töne einmal so, und dann so zu verwenden. Zur unvermeidlichen Auseinandersetzung mit den Hörgewohnheiten des Publikums kommt als weitere Front die Realität der Medien hinzu: Das Schielen nach der Einschaltquote und der Blickwinkel der Kalkulation auf Produkte, die möglichst schnell und in Massen verkauft werden können, engt den Handlungsspielraum, auch gutwilliger und verständnisvoller Förderinnen und Förderer, ein.
Ceterum censeo..: Klassisch ausgebildete Instrumentalist/-innen, Schulmusiker/-innen, Diplommusiklehrer/-innen, Sänger/-innen, Komponist/-innen können einen Zugang zu diesem weiten Feld ,nachsozialisieren‘, wenn sie es wollen, es gibt erfahrungsgemäß Hoffnung, ,wenn Hänschen nicht swingt, swingt Hans nimmermehr‘ gilt nur beschränkt. Aus allen Anforderungen einer möglichst umfassenden pädagogischen Kompetenz sollten sie es wollen.
Also: Jazz als „Universität der Unterhaltungsmusik“ (Fritz Rau) durch eine maßvoll verpflichtende Verankerung im Fächerkatalog vielleicht sogar wollen müssen (die zur Zeit laufenden Strukturdebatten bieten eine gute Gelegenheit zum Überdenken der ganzen Sache). Außer Programm noch ein Vorschlag zur mondialen Gesundung, ihr unsäglichen Globalisierer hört die Signale: lmprovisationspflicht statt Wehrpflicht, bis jetzt in Gottes Ohr, wohin sonst?