Eines der spannendsten Dinge für mich als Lehrer ist, vom Kompositionsunterricht aus anderen Ländern zu hören. Ich bin sehr froh, dass Studierende aus der ganzen Welt zu uns kommen und frage sie immer wieder darüber aus, wie musikalische Stile und Trends in ihren jeweiligen Ländern wahrgenommen und diskutiert werden. Dabei fällt auf, dass sie oft erstaunt sind, dass der Unterricht in Deutschland nicht so von einer Hardliner Avantgarde-Ästhetik dominiert wird, wie sie es aus der ausländischen Perspektive vermuteten und von ihren Lehrern vermittelt bekamen. Das geht so weit, dass mich Studierende manchmal fragen: „Darf ich wirklich auch intuitiv komponieren? Kann ich auch ohne ein Kompositionssystem arbeiten?“. Sie waren sich sicher, dass das in Deutschland nicht „erlaubt“ ist.
Seit den von sehr dogmatischen Diskussionen geprägten 1950er- bis 1980er-Jahren hat sich hierzulande sehr viel in der „Szene“ verändert. Auch wenn die Ästhetik dieser Zeit immer noch von einigen Lehrenden vertreten wird, ist die musikalische Landschaft insgesamt wesentlich pluralistischer und offener geworden. Vieles, was früher als strenger Gegensatz angesehen wurde, kann nun nebeneinander bestehen und ist Teil eines weiter gefassten musikalischen Spektrums. Man schaut zunehmend in fragende Gesichter, wenn man heute Studierenden erzählt, dass früher schon die geringsten Anflüge etwa von Tonalität eine weitestgehende Ächtung zur Folge hatten. Für sie ist es vollkommen selbstverständlich, verschiedenste musikalische Techniken im selben Stück zu verwenden. Manche schreiben sogar unbekümmert wieder Sonaten oder Symphonien, ohne damit eine konservative Position einnehmen zu wollen. Ich erlebe Studierende, die an einem Tag Ambientmusik für einen Horrorfilm komponieren und dann am nächsten an einem komplexen Streichquartett arbeiten.
Im Ausland haben sich dagegen vielerorts Positionen gehalten, die hier schon längst Vergangenheit sind. Mein brasilianischer Student erzählte mir zum Beispiel von seinem Unterricht in Brasilien in den 2010er-Jahren, in dem ihm einzig und allein die Darmstädter Ästhetik der 1960er als „moderne“ und einzig akzeptable musikalische Sprache vermittelt wurde. Kein Wunder: Seine Lehrer hatten damals als junge Menschen in Deutschland studiert und diese Ästhetik als hochaktuell und aufregend erlebt. Nun waren sie in Brasilien von den weiteren Entwicklungen in Europa jahrzehntelang isoliert gewesen – ein bisschen wie die japanischen Soldaten, die einsam auf einer Pazifikinsel den 2. Weltkrieg endlos fortsetzten, da sie dessen Ende nicht mitbekommen hatten.
Das soll jetzt aber nicht so klingen, als sei Brasilien „rückständig“ oder der Bezug auf Europa essenziell für junge Brasilianer. Universitäten sind an der Bewahrung von Wissen interessiert. Jede aus ihrem lebendigen Kontext und dem beständigen Diskurs losgelöste „importierte“ Ästhetik riskiert daher die Erstarrung als Lehrstoff.
Umgekehrt herrscht bei uns eine große Ignoranz, was die ästhetischen Entwicklungen in anderen Ländern angeht. Das hat damit zu tun, dass wir oft das Gefühl bekommen, dass die Welt „zu uns“ kommt. Junge deutsche Studierende im Fach Komposition gehen nur in den seltensten Fällen ins Ausland, da ihnen bei uns scheinbar genügend Entfaltungsmöglichkeiten und Aufführungsgelegenheiten zur Verfügung stehen. Daher bekommen sie oft den falschen Eindruck, dass wir der „Nabel der Welt“ sind, was neue Musik angeht, und dass die hier herrschenden Diskussionen allgemeingültig sind. Im schlimmsten Fall gerieren wir uns im Ausland kolonial, das heißt wir exportieren unsere eigenen „Regeln“ und vermitteln den dortigen Studierenden, dass man dies und das „nicht mehr so macht“ oder was passé ist und was nicht.
Umso wichtiger ist der beständige Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt. Je mehr wir einander zuhören und respektieren desto fruchtbarer wird der Austausch. Das Lernen und Ausprobieren endet nie, und das ist gut so. Dabei ist es essenziell, dass auch wir Lehrenden nie aufhören, neugierig zu sein und über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Wer exportiert, muss auch importieren.