Rückblende 40 Jahre: Politiker und Experten der Musikerziehung brüteten über die blendende Idee eines Jugendministers, in seinem Wahlkreis etwas für die Laienmusik zu tun. Natürlich im schwäbischen Bundesland mit seinen überreichen musikalischen Aktivitäten. Eine bundeszentrale Einrichtung galt es zu schaffen, die sich neben der schon bestehenden Akademie in Remscheid ganz der Musik widmet, Maßstäbe und Richtlinien für eine Musikerziehung im instrumentalen und vokalen Bereich entwickelt mit der Zielgruppe Laienmusizieren in allen Facetten, zur Belebung der außerschulischen Musikbildung der Jugend. Ein Geschenk an die Musikverbände, verankert im Kinder- und Jugendplan der Bundesregierung und vor 35 Jahren eingeweiht: die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen, inzwischen reich gefüllt mit Lehren, Lernen und Leben. Denn der damals neue Wettbewerb „Jugend musiziert“ mobilisierte die Musikerzieher. Die Musikschulen besannen sich auf einen flächendeckenden Ausbauplan. Musiklehrer, Erzieher, Ensemble-Leiter riefen nach Fort-, Weiter-, ergänzender Ausbildung mit wachsenden Qualitäts- und Quantitätsansprüchen.
Zusätzlicher Bedarf und Eigenstolz in den Bundesländern ließen weitere Bildungsstätten näher am Kunden entstehen. Heute bilden sie einen Arbeitskreis, in dem man Erkenntnisse austauscht, sich über Art und Inhalte von Bildungsmaßnahmen abzusprechen versucht oder sich auch Kompetenzen streitig macht. Welche Chance nun in Trossingen in ihrem 35. Jahr: Zum dritten Male tritt ein fast neues Leitungsteam an, das an den Akademieauftrag gebundene Konzept zu durchdenken, Profile zu überprüfen und zu aktualisieren. Derzeit sind die mittragenden 31 Verbände zur Mitgliederversammlung aufgerufen, dazu ihre Meinung, Befriedigung oder auch Desiderata abzugeben. Unterstützend begleitet diese Meinungsbildung auch die neue musikzeitung. Das Ergebnis ihrer parallelen Umfrage wird sie zusammenfassend wiedergeben.
Migration People
Die Bundesakademie Trossingen muss damit leben, dass inzwischen die Menschen, die in den Verbänden funktionale oder pädagogische Verantwortung tragen, wechseln. Verändert haben sich gesellschaftliche wie politische Gegebenheiten und Strukturen. Besonders stark die Demographie in unserem Land und damit Bedürfnisse und Aufgaben einer solchen Bildungseinrichtung. Denn vor tagesaktuellen, hochpolitisch brisanten Problemen darf sie sich nicht verschließen. Das erinnert an Victor Hugos Empfehlung aus dem Jahre 1860: Um die Gefängnisse zu schließen, müsste man die Schulen öffnen – übertragen auf unsere Situation bedeutet dies: Die Vereins- und Verbandsarbeit, die Kultur- und Musikschulhäuser sind zu öffnen für jene jungen und erwachsenen Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, arbeits- und perspektivlos sind und ein Risikopotential in unserer Gesellschaft darstellen. Oder für die Ankömmlinge in unserem Land, ob willkommen oder nicht. Wir können nicht umhin, uns derer anzunehmen, die einen anderen kulturellen und sozialen Background, eine andere Hautfarbe mitbringen, in ihren eigenen Traditionen leben. Die sich hieraus ergebenden Aufgaben sich zu eigen zu machen, zu bewältigen, bedeutet für alle Bildungseinrichtungen, Schulen, Kindergärten, und Freizeitangebote eine ernorme Bewährungsprobe.
Um Migration People ansprechen und einbeziehen zu können, brauchen alle, die in der Bildungsverantwortung stehen, fachliche, methodische, therapeutische und psychologische Hilfen und Anregungen. Sind das nicht höchstaktuelle Aufgaben und Problemfelder für eine bundeszentrale Einrichtung? Nämlich Methoden und Modelle zu entwickeln, pädagogische Kräfte in die Lage zu versetzen, ihrem neuen Umfeld Impulse zu geben, sei es für mehr und mehr Integration, sei es für bewusste Pflege und Toleranz des Anderen. Hier sind Phantasie und Ideen, Initiative und Courage gefragt. Am besten für die viele Arten aufeinanderprallender Jugendkulturen ein Netzwerk des Erfahrungsaustausches, des Lernens und Agierens schaffen (z.B. zwischen des Bundes-, Landes- und Verbandsakademien). Das könnte ein Beitrag sein, den das Europäische Jahr des interkulturellen Dialogs von der Führungsrolle der Bundesakademie einfordert.