Es ist schon verwunderlich. Da dreht der französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert in einer abgelegenen Gegend der höheren Auvergne einen Streifen über einen Schullehrer und seine Schüler: in einer Zwergschule, die mehrere Klassenstufen vereint. Um die fünf Jahre mag der Altersunterschied der Kinder betragen.
Lernsequenzen, Gespräche mit Eltern, Streitigkeiten in der Pause, kleine Strafen, kleine Belohnungen, Ausgelassenheiten beim Schlittenfahren, Wehmut, Bedrücktheit und auch Freude am Ende des Schuljahres: Das alles klingt nicht so, als könne man damit einen Produzenten finanziell hinter dem Ofen hervor locken, noch dazu, wenn man die Notwendigkeit betont, das Schulleben über ein ganzes Jahr hinweg zu filmen. In Auftrag gegeben war der Film von einem französischen Fernsehkanal. Die Fernsehausstrahlungen wurden ein überraschend großer Erfolg und man beschloss, den Dokumentarfilm in die Kinos zu bringen. Titel: Sein und Haben. Und auch hier zeigt sich bereits überwältigende Resonanz.
Man muss nach den Gründen fragen. Warum stellt man nach diesem Film nicht mehr die Frage nach PISA-Studien, warum gewinnt man wieder Vertrauen zum Menschen unabhängig von High-Tech-Lenkung und von virtuellen Chimären, warum hat man das Gefühl, den Film als gereifterer, ja als besserer Mensch zu verlassen? Spätestens hier sind wir bei einem gesamtkulturellen Aspekt, der spezifische Fragen der Filmkunst weit hinter sich lässt. Wirklich stößt „Sein und Haben“ in eine defizitäre Landschaft vor, die unsere Kahlschlagskultur mit immer größeren Verwüstungen im Geistigen und Sinnlichen geschaffen hat und alltäglich weiter produziert. Auf der Strecke bleibt der Mensch. Der aber steht in „Sein und Haben“ im Zentrum: in seiner komplexen Einfachheit, in seinem Netzwerk aus Ängsten, Wünschen, Aggressionen, Zuneigungen. Freilich gelang hier ein Glücksfall. Der Lehrer – und jeder, der den Film sieht, erkennt, dass hier nichts gestellt oder geschönt wurde – ist das Idealbild eines Lehrers, voller Überzeugung in sein Tun, voller geduldiger Hinwendung zu jedem einzelnen Schüler, von denen jeder anderen Zugang, andere Formen der Ansprache braucht. Unser beliebtes und so oft strapaziertes Wort Stress wäre wohl für viele die Bezeichnung solcher Anforderung. Hier aber, und das betrachtende Schweifen über die weiten Hügellandschaften der Auvergne bestätigt dies, scheint sich die Zeit zu weiten, nichts drängt, Luft zum Atmen bleibt. Und die Kamera geht diesen Rhythmus mit, sie lässt sich Zeit, Tiefe der Betrachtung ersetzt die uns als so unentbehrlich aufgeschwätzte „Action“. 100 Minuten Spannung entstehen, weil uns alles ganz im Inneren angeht.
Vieles steht danach anders da oder wirkt dumm. Was macht der Begriff von der Achse des Bösen gegenüber dem Gespräch des Lehrers mit zwei Schülern, die sich geprügelt haben? Was macht die Angst vor dem Nullwachstum gegenüber der hier vermittelten Erkenntnis, wie viel Soziales und Geistiges (ohne Gewinnmaximierung) unbegrenzt wachsen kann? Was macht unser digitalisiertes und tabellarisiertes Bewusstsein, wenn es den Menschen nicht mehr sieht? Der Film von Philibert legt den Finger auf die Wunde. Er formuliert die Begriffe Erziehung und Kultur neu, indem er zu deren Wurzeln zurück kehrt.