Man muss nicht auf Umfragen schauen, um zu verstehen, dass der Osten Deutschlands sich im Moment dramatisch verändert. Man kann es ganz einfach selbst erleben, wenn man dort zu tun hat. Das „Theater der Jungen Welt“ in Leipzig hatte mich angefragt, als Komponist an einer Performance im Rahmen eines großen Staatsakts mitzuwirken, der 35-Jahr-Feier der „friedlichen Revolution“ in Leipzig 1989, am 9. Oktober 2024. Es sollte ein großer Staatsakt werden, Bundeskanzler, Gewandhausorchester, MDR, das ganze Trara. Und mittendrin ein bisschen Platz für Zitate von Zeitzeugen und einen Auftritt von Leipziger Jugendlichen mit meiner Musik.
Kalter Wind im Osten
Zuallererst stellten wir uns als Team die Frage nach der Besetzung. Wer würde die Kinder begleiten und unterstützen? Natürlich bot sich das Gewandhausorchester an, denn die waren ja schon vor Ort und Teil des Festakts, unter dem Dirigat von Semyon Bychkov. Wer je bei einem Festakt mit Orchester dabei war, weiß, wie seltsam es wirkt, wenn etwas darin musikalisch dargeboten wird, bei dem das Orchester nicht beteiligt ist, womöglich sogar ostentativ gelangweilt herumsitzt.
Wir starteten also ein halbes Jahr vorher eine Anfrage beim Gewandhausorchester, wobei ich schon gewarnt wurde, hier nicht allzu optimistisch zu sein. Das Orchester ignorierte die Anfrage.
Im Laufe der einseitigen Kommunikation kam ich dem Orchester vorauseilend immer mehr entgegen – alles wäre vom Blatt spielbar, es wäre bewusst ganz einfach gehalten, um nur Minuten der kostbaren Probenzeit in Anspruch zu nehmen... aber die Antwort blieb weiterhin Schweigen.
Nun gut, ich konnte durchaus etwas so komponieren, dass es allein funktionieren würde, und man das Orches-ter dann später dazubauen könnte. Ich komponierte also erst einmal Musik für 6 Celli und Orgel sowie Kinderstimmen.
Im selben Zeitraum fanden die Wahlen in Sachsen und Thüringen statt, mit den bekannten Ergebnissen. Aus der Kommunikation mit den Mitwirkenden wurde zunehmend spürbar, dass unser Beitrag nun besonders misstrauisch beäugt wurde. Immerhin gilt das Theater der Jungen Welt eher als engagiert gegen rechts und „woke“.
Man merkte dem Libretto von Winnie Karnofka an, dass es möglichst alle Fallstricke zu umgehen versuchte. Man versuche das mal: ein Stück über eine erfolgreiche und bewundernswert friedliche Revolution zu schreiben, die sich gegen ein unerträgliches System wandte, aber nun sind vielleicht Menschen im Publikum, die die DDR-Vergangenheit verklären und sich für Russlandpropaganda instrumentalisieren lassen.
Spürbares Misstrauen
Im Laufe der Vorbereitung für den Festakt hatten wir mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen, die uns großartige Sätze lieferten, mit sehr eindeutigen Aussagen, aber viele dieser Sätze konnte man nun gar nicht mehr bringen. Eine Zeitzeugin sagte zum Beispiel: „Ich bin sehr froh, seit 1989 in einer Demokratie zu leben“ – da hörten wir schon das höhnische Gelächter von irgendwelchen AfDlern im Kopf!
Unsere größte Sorge galt aber den jungen Performern – alles Leipziger Kinder, bei einem Casting gefunden. Eines dieser Kinder war indischer Herkunft, eine Tatsache, die mir in der Vorbereitung gar nicht als besonders aufgefallen war, die aber in diesem Kontext tatsächlich eine gewisse Brisanz bekam. Würde vielleicht irgendjemand sagen, dass das ja kein „echtes“ Leipziger Kind sei, obwohl in Leipzig geboren und aufgewachsen?
Im Vorfeld bekam ich auch ein gewisses Misstrauen zu spüren allein durch die Tatsache, dass ich kein „Leipziger“ Komponist bin. Kollegen mokierten sich darüber, dass es doch ein Skandal sei, dass bei diesem Festakt kein Leipziger Komponist engagiert wurde.
Zunehmend hatte ich den Eindruck, hier in einer Art Minenfeld zu agieren, in dem einem von allen Seiten Misstrauen entgegenschlägt, egal wie man sich verhält. Es ist ein Wunder, dass mir überhaupt etwas musikalisch einfiel, aber der Gedanke an die Performer hielt mich bei der Stange.
Nun kam auch endlich Antwort vom Orchester – ich solle doch bitte die Orchesterstellen schicken. Ich antwortete, dass ich diese ja erst schreiben könne, wenn es eine Zusage geben würde. Wieder erst einmal Schweigen, dann kam eine Mail eines ehemaligen Studienkollegen im Orchestervorstand. Neue Hoffnung keimte in mir auf: Sicherlich würde er mir helfen und sich für diese Idee einsetzen. Inzwischen hatte ich die betreffende Stelle fertig komponiert und den potenziellen Orchestereinsatz auf nur 1 Minute und 20 Sekunden simpelster Begleitung reduziert, als Höhepunkt des Ganzen und Zeichen der Solidarität mit der Leipziger Jugend – ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.
Ich bekam als Antwort, dass es viel wichtiger wäre, den Text zu sehen (!), erst dann würde man sich bei mir melden. Aha, die Kollegen wollten also überprüfen, ob unser Text zu „woke“ oder zu „liberal“ sein und vielleicht einige Orchestermitglieder beleidigen könne. Aber der Text von Winnie war so gut, so poetisch, so intelligent und ausgeglichen, dass ich mir keinerlei Sorgen machte, dass man ihm etwas anderes als Wohlgefallen entgegenbringen würde. Ich schickte ihn also hoffnungsvoll an das Orchester...und bekam wieder keine Antwort.
Ein paar Wochen (!) später dann über mehrere Ecken die Nachricht: Das Orchester hätte sich gegen eine Beteiligung entschieden. Will sagen: „wir haben keinen Bock“. Der Kommilitone, mit dem ich früher Kammermusik machte, hielt es noch nicht einmal für nötig, sich bei mir zu melden.
Da ich mich immer mehr als eine Art Wessi-Paria fühlte, sprach ich mit vielen Freunden aus dem Osten über die Situation. Diese versuchten mich zum Teil damit zu beruhigen, dass es halt „schwierige Zeiten“ seien, und sich das schon wieder legen würde. Aber die Wahlergebnisse würden eine deutliche Sprache sprechen – man fühle sich zunehmend „fremdbestimmt“ und hätte keinen Bock mehr auf „Bevormundung“.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein solcher Festakt in zum Beispiel Hamburg oder München verlaufen wäre. Ich bin sicher, dass sich die dortigen Orchester darum gerissen hätten, symbolhaft die Jugendlichen für eine Minute zu begleiten. Auch würde ich nie auf die Idee kommen, dass es nicht passend sei, wenn etwa ein Kollege aus dem Osten in München eine musikalische Aufgabe bei einem Staatsakt übernimmt. Die Komposition war schon längst fertig, aber nun kamen die strengen Vorgaben des MDR. ich musste also an den Stücken herumkürzen, bis sie in ein strenges Raster passten, bei dem schon jede Sekunde als zu viel empfunden wurde. Seltsam – die Redner dürfen jederzeit ausschweifen, aber bei der Musik werden schon 15 Sekunden zu viel als inakzeptabel empfunden.
Mit gemischten Gefühlen reiste ich nach Leipzig. Meine Stimmung besserte sich aber sofort, als ich die erste Probe mit den Kindern hatte. Ich sah, wieviel Spaß sie hatten und dass sie sich gut vorbereitet hatten. Scherzhaft fragte ich Winnie und Michaela Dicu, die Regisseurin, ob denn das Publikum auch erfahren würde, wer das denn alles gemacht habe. „Keine Sorge“, versicherten sie mir, „wir haben die Informationen über die Mitwirkenden schon lange den Verantwortlichen zugesandt, auch der Regie vom MDR liegen sie vor“.
„Beitrag des TdjW“
Der große Tag nahte. Ganz Leipzig war auf den Beinen, ebenso wie Scharen von Sicherheitskräften. Wir hatten uns alle schon Wochen vorher anmelden müssen, um vom BKA gescreent zu werden. Auf dem Dach des Gewandhauses waren Scharfschützen postiert. Nun sah ich auch den Programmzettel: Alle Redner des Staatsakts waren aufgelistet, sowie der gerade erst für Bychkov eingesprungene Dirigent. Vergeblich suchte ich aber unsere Namen, der Programmpunkt war allein als „Beitrag des TdjW“ angekündigt. Niemand konnte mir erzählen, dass es dafür keinen Platz gegeben hatte, denn die Hälfte der Seite war komplett leer. Nun denn, vielleicht würde man uns im Fernsehen nennen.
Bei Veranstaltungsbeginn senkte sich lange Stille über den Saal, denn kurz vorher war das Erscheinen der wichtigsten Gäste angesagt. Ich sah, wie eine Zeremoniendame nervös den Saal betrat, dann wieder verschwand. Endlich tauchte der Bundeskanzler – ein kleiner, unauffällig wirkender Mann – mit seinem Tross auf. Eine Schar von Journalisten machte Fotos, dann konnte es endlich mit 15 Minuten Verspätung losgehen. Nach der Beethoven-Ouvertüre gab es mehrere Reden – der Bürgermeister, der sächsische Ministerpräsident, eine Bürgerrechtlerin, die 1989 selbst miterlebt hatte (Marianne Birthler). Und zwischendrin unsere kleinen Filme mit Musik von mir. Das Publikum klatschte an den richtigen Stellen. War vielleicht doch nicht so viel AfD präsent, wie ich erst befürchtet hatte? Marianne Birthler hielt die beeindruckendste Rede – nach zwei kurzen Sätzen über die friedliche Revolution ging sie sofort zur Gegenwart über und nannte die, die gerade in Weißrussland und Russland im Gefängnis sitzen, zum Beispiel Maria Kolesnikova. Hier gab es dann einen sehr seltsamen Moment: Das Publikum hatte sich daran gewöhnt, in regelmäßigen Abständen zu klatschen, und tat es dann auch, als Birthler von Folterung und russischer Gewalt sprach. Applaus für Untaten? Ernsthaft? Aber dieser kurze Moment war vielleicht auch nur ein Fehler in der Matrix.
Bundeskanzler Scholz hatte sich gewünscht, seine Rede nach dem Auftritt der Kinder zu halten, was wir ihm aus dramaturgischen Gründen sanft ausgeredet hatten. Er hatte im Vorfeld nach unserem Text verlangt, damit er sich in seiner Rede darauf beziehen konnte, da er nun vor unserem Auftritt redete, sagte er nichts zu uns.
Aber nun war der Moment gekommen: die Kinder traten auf, natürlich aufgeregt, aber sehr bei der Sache und absolut überzeugend. Langer Applaus und natürlich fragende Gesichter – wer waren die Urheber? Was war das für ein Text? Die leere halbe Seite im Programmzettel gab keine Antwort.
Danach noch zwei Hymnen, und vorbei war die Veranstaltung. Mit meinem VIP-Armbändchen durfte ich – inzwischen sehr hungrig – in den VIP-Bereich, war aber dort ganz allein und wusste nicht recht, was ich dort tun sollte. Sollte ich mich dem Bundeskanzler mit den Worten „Ich habe das übrigens komponiert da am Schluss“ vorstellen? Irgendwie wäre das peinlich gewesen. Im Foyer erfuhr ich dann von den anderen, dass man in der MDR-Liveübertragung auch keine Namen genannt hatte, was konsequent war im ganzen Kontext.
Und das war Leipzig: ich kam als Freund und ging als namenloser Fremder. Eine Stadt verlassend, die sich zunehmend selbst fremd wird.
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