Man darf sich nicht beschweren. Kultur ist heutzutage en vogue. Jeder und jede hat sie. Man riskiert Beleidigungsprozesse, wenn man sie einem abspricht. Selbst dort, wo der Naive nur das Regime des schnöden Mammons oder die ultima ratio der blutigen Gewalt am Werk sieht, geht es in Wahrheit um ganz andere Dinge. Keine Firma ohne Unternehmenskultur, keine Kompanie deutscher Soldaten in Nordafghanistan oder demnächst im Westsudan, die nicht einer Philosophie folgt. Kultur ist das Passepartout, durch das alles andere (das so bleibt, wie es ist und immer schon war!) ein wenig mehr hermacht. Man nennt das den Mehrwert der Kultur.
Zu diesem Mehrwert gehört auch, dass der, der sich seiner Kultur sicher ist, selbstbewusst und, im Wortsinn, unverschämt wird. Davon kann jeder Klassik-Impresario ein garstig Lied singen. Dass Schönberg beim Kunden einen Gesichtsausdruck hervorruft, der an heftige Zahnschmerzen erinnert, hat schon Tradition. Ein Lutoslawski-Konzert wird mit existenzgefährdendem Murren quittiert, dafür führt „Blechschaden“ in den Gehörgängen, begleitet von Faxen auf der Bühne, zu wunschloser Seligkeit. Es gab eine Zeit, da wollte sich der Klassikfreund, zumindest nach außen hin, durch nichts und niemanden in seiner Konzentration stören lassen. Jetzt will er Abwechslungen jeder Art (das Auge hört mit!) und Atmosphäre.
Ein Schlosskonzert ist deshalb, selbst wenn man sommers im Park vielleicht nur fürchterlich nass wird, auf jeden Fall besser als ein Konzert ohne Schloss. Und weil zu einem Schlosskonzert selbstverständlich auch Schlosspreise gehören, will der Kunde für sein vieles schönes Geld auch untertänigst seinen Geschmack, wie immer er auch beschaffen sei, bedien(er)t wissen. Natürlich ist einem das beste Budapester Streichquartett für einen solchen Anlass gerade recht, aber doch bitte nicht mit Beethoven oder Bartók, sondern lieber mit Schmalz fürs Herz und Rhythmen für den Fuß. Längst vorbei sind die Zeiten, als der Kunde sich vom Kritiker, der nicht einmal bezahlt!, einschüchtern ließ. Der Kunde mit Kultur lässt die selbstverschuldete Unmündigkeit hinter sich und findet völlig ungeniert gut, was ihm gefällt.
Die Fernseh- und Radiosender schließen sich, mit demokratischem Respekt vor der Quote, dieser Entwicklung an. Wer heute noch, wie einst ein durchaus populärer Politiker, sagen würde: „vox populi, vox Rindvieh“, wäre nicht nur seinen Job, sondern auch seine Reputation los. Zu den Merkwürdigkeiten der neueren Zeit gehört es, dass man sich scheut, dem Publikum das zu bieten, was der Sendername verspricht. Bei einem 24-Stunden-Klassik-Radio bekommt man deshalb nur noch in Ausnahmefällen ganze Werke, dafür lieber Schnittchen und Häppchen oder gleich Jazz und griechische Folklore. Das Misstrauen dem eigenen Produkt gegenüber findet sich freilich in allen Bereichen. So sendet der ZDF-Theater-Kanal nur ausnahmsweise Theaterstücke und stattdessen lieber leichte Hollywoodkomödien, weil die fürsorglichen Programmmacher erwarten, dass das der Theaterfreund im Grunde lieber sieht. MTV findet Musik-Clips auf die Dauer öde und behilft sich deshalb mit spannenden Dating-Shows und aufregenden Experimenten für Pyromanen aller Art. Und selbst das Deutsche Sport Fernsehen übertrug des Nachts lieber Porno-Clips; vielleicht, weil David Finchers „Fight Club“, auch das ja ein Film mit unübersehbarem Körperertüchtigungsbezug und deshalb DSF-tauglich, in diesem Zusammenhang von „Sportficken“ sprach.
Es gibt freilich auch Redakteure, die sich dem allgemeinen Trend mutig entgegenstemmen und unter harmlosen Titeln wie „Après-midi“, die verdauungsfördernde Musikschonkost zu versprechen scheinen, mit einer geradezu Hegelschen List der Vernunft ganze Bruckner-Symphonien verstecken. Noch komplizierter liegt der Fall bei Elke Heidenreich, von der erst kürzlich der „Spiegel“ (innig ironisch? Man kann nicht sicher sein!) behauptete, jede ihrer halbstündigen „Lesen!“-Sendungen hebe den Volks-IQ um zehn Prozent. Frau Heidenreich ist eine Kultur-Radikale im halböffentlichen Dienst, die, seit sie in etwa das Alter des alten Max Frisch erreicht hat, ohne weiteres behauptet, Erfahrungen mache sie nur noch, wenn sie lese. Zur „corporate identity“ der Elke Heidenreich und ihrer Sendung gehört also die kulturelle Rundumversorgung mit imperativischem – Kant hätte gesagt: kategorischem – Anspruch: „Lesen!“ Ihre Ambition als eigenständige Frau geht aber dahin, nicht ausgerechnet das zu lesen, was eh schon alle lesen, sondern Bücher zu entdecken, die (angeblich) noch keiner kennt. Und weil in jedem Vorleser, spätestens seit Marcel Reich-Ranicki weiß man das, ein kleiner Diktator steckt, will man seine Entdeckungen auch zu den Entdeckungen aller anderen machen. Die Buch-Charts künden dann von den volkspädagogischen Triumphzügen des Elke-Kanons, der gerade bis zur nächsten Sendung Gültigkeit hat.
Wer durch permanentes Lesen genügend kulturelles Kapital angesammelt hat, kann endlich auch das tun, was jeder Schlosskonzert-Besucher schon lange macht: die Wahrheit aussprechen, so wie sie im eigenen (ein)gebildeten Gehirn beheimatet ist. Deshalb richtete Elke Heidenreich kürzlich ganz ungeniert und vom schön-charmanten „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo anfeuernd weiter enthemmt, ein Kettensägenmassaker an einem, wie sie meint, unmöglichen, weil nicht elkekompatiblen Kanon an. Schon ihr großes Vorbild hatte ja seinen Unwillen gegen den „Mann ohne Eigenschaften“ öffentlich erklärt und ex cathedra behauptet, jeder angebliche „Ulysses“-Leser sei tatsächlich nur ein schamloser Lügner. Elke befindet nun, von Giovanni heftig benickt, Proust sei ein schlimmer Zeiträuber, sie habe ihn nie auch nur annähernd zu Ende gelesen und deshalb brauche es auch kein anderer tun. Ist erst der Kanon beseitigt, vermehren sich die Kulturmenschen wie die Kaninchen, sitzen im Park, schlürfen ihren Roten, hören den Zigeunerweisen zu, die der angenehme Westwind vom Kastanienbaum herüberträgt und schauen, wenn sie sich noch ein wenig hungrig fühlen, via Handy-Display der leidenschaftlichen Leserin Elke beim Bücherverbrennen zu.