Es gibt Sitzungen, bei denen wird rund ein Viertel der Zeit darauf verwendet, am Schluss ein für alle passendes Datum für die nächste Sitzung festzulegen. Jeder hat eine fürchterlich mit Terminen übersäte Agenda, und irgendwo eine gemeinsame Lücke zu finden, gleicht der Quadratur des Zirkels. Die heutigen Kulturmenschen gleichen in ihrem Beschäftigungsgrad Wirtschaftsmanagern, nur mit dem Unterschied, dass diese den Clinch um ihr Zeitbudget nicht persönlich ausfechten, sondern das von ihrer Zweitsekretärin per Telefon erledigen lassen. Bei ihnen geht es ja auch nicht um Streichquartette und Neue-Musik-Festivals, sondern um ganz andere Peanuts.
Der Vergleich mag angesichts der unterschiedlichen Größenordnungen hinken. Doch entgegen aller Unkenrufe läuft der Kulturbetrieb offenbar immer noch auf Hochtouren. Die Macher hetzen von Meeting zu Meeting, die Dirigenten jetten von Auftritt zu Auftritt, die Journalisten haken Event nach Event ab. Und die Komponisten schlagen sich mehr mit Unterricht, Kontaktpflege und Einstudierungsarbeiten herum als mit ihrer eigentlichen Arbeit, dem Komponieren. Und weil er dann keine Zeit zum Komponieren hat, liefert der Komponist die Partitur beim Verlag zu spät ab. Und weil sie der Dirigent vom Verlag zu spät bekommt, hat er keine Zeit, sie richtig einzustudieren. Und weil das Orchester zu wenig Probenzeit zur Verfügung hat, ist die Aufführung schlecht. Und weil der Kritiker keine Zeit hat, vorab einen Blick in die Partitur zu werfen, ist seine Kritik nichtssagend.
Da grenzt es dann schon an ein kleines Wunder, dass es noch ein paar Zuhörer gibt, die die nötige Zeit dazu aufbringen, diesen Veranstaltungstermin wahrzunehmen – pardon, ins Konzert zu gehen. Und dass sie nicht merken, dass die da oben auf der Bühne und die in den Verwaltungsetagen eigentlich gar keine Zeit haben, das zu tun, wofür sie bezahlt werden und was sie ja eigentlich alle tun möchten: Eine gute Aufführung zustande zu bringen.
Ursprünglich war Kultur eine Angelegenheit, die sich in der sogenannten Freizeit abspielte. Am sogenannten Feierabend ging man ins Theater oder ins Konzert. Man nahm sich die Zeit für das andere. Dieser bürgerliche Kulturbegriff ist in den letzten Jahrzehnten ausgiebig bekämpft und schließlich mit Erfolg abgeschafft worden – zur Bestätigung werfe man einen Blick in die Feuilletons der großen Tageszeitungen. Heute ist alles Kultur, was sich irgendwie bewegt: vom taiwanesischen Präsidentschaftskandidaten über Big Brother bis zu Wellnessbad und DB-Lounge. In Gang gehalten wird diese Kultur von einer Art allumfassender Betreuungsindustrie, die dem sogenannten Verbraucher das Geld mit der Behauptung aus der Tasche zieht, speziell und ausschließlich für ihn das Beste zu wollen.
Das geschieht überall und jederzeit. Der Achtundsechzigertraum von der Versöhnung von Kultur und Alltag ist Wirklichkeit geworden. Es ist nicht mehr zwingend nötig, zu den Orten der Kulturvermittlung hinzugehen – die Zeit kann man sich sparen. Die Kultur wird einem von den Betreuermedien gegen geringe Gebühr ins Haus geliefert oder unterwegs im Auto, manchmal auch am Arbeitsplatz begleitend verabreicht. Dazu braucht man gar keine Zeit mehr. Es geschieht nebenher, als Zugabe zu all den wichtigeren Dingen, die man gerade macht.
Doch mit dem Mangel an Zeit schwindet auch die Möglichkeit des stressfreien Gedankenautauschs und des kollektiven Sicherinnerns; das hat stets etwas mit Zuhören, Lesen und Nachdenken zu tun, erfordert also einen Zeitaufwand. Auch die Musik steht zur Disposition, denn sie braucht zum Erklingen und Gehörtwerden dummerweise Zeit. Am besten also kompakte Dreiminutenclips oder die Zerlegung längerer Stücke in ihre Einzelteile. Der Hörer hat ja keine Zeit.
Was länger dauert, hat sich zu legitimieren. Ein Zeitverständnis, das sich der empirisch gemessenen Zeit entzieht, ist bestenfalls noch als Forschungsgegenstand von Anthropologen denkbar. Augustinus und Hildegard werden wie der tibetanische Mönch und der ostafrikanische Buschmann ins Exotenmuseum gestellt, wo man sie als Kuriosum bestaunen kann. Falls man Zeit dazu hat. Vielleicht erhält dort irgendwann auch einmal Bruckner sein Plätzchen – direkt neben dem Geschichtenerzähler aus der alten Dorfgemeinschaft, mit dem er etwas gemeinsam hat: Seine Erzählungen sind zu lang, und deswegen hört ihm keiner mehr zu.
Sind allgemeine Wirtschaftsmisere, Subventionskürzungen und inkompetente Politiker schuld, dass unsere gewachsene Kultur den Bach runter geht, oder ist der Grund vielleicht ein anderer: dass wir einfach nicht mehr genügend Zeit haben, um uns aktiv auf kulturelle Dinge einzulassen – inbegriffen all das, was uns frühere Generationen hinterlassen haben? Eine interessante Frage, auf die man eigentlich näher eingehen müsste.
Geht leider nicht, denn der Redaktionsschluss ist da. Ich habe keine Zeit.