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Konkrete Utopie

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Um den Begriff der „konkreten Utopie“, der im Umfeld von Denkern wie Benjamin, Bloch, Marcuse und Adorno aufkam und um 1968 zum Schlagwort einer kritischen Theorie der Kunst und Gesellschaft befördert wurde, ist es seit dem Fall des Eisernen Vorhangs still geworden. Die ihm innewohnenden Gedankenreste eines freiheitlich-utopischen Kommunismus‘, Ausdruck einer säkularisierten Messiaserwartung, haben ihre Überzeugungskraft im Westen verloren; im Osten glaubte mit Ausnahme einiger dissidenter Enthusiasten sowieso keiner daran. Heute geistern sie manchmal noch als Revolutionsromantik durchs deutsche Musikfeuilleton oder durch ästhetische Bekenntnisaufsätze heimatlos gewordener Linker.
Während solche Träumereien in der E-Musik, wo sie überwintern, dazu beitragen, dass die Branche von Außen­stehenden als sympathisch-weltfremd belächelt wird, sind aus dem angeblich dumpf profithörigen U-Musik-Bereich frischere, weniger ideologiebelastete Gedanken zum selben Thema zu vernehmen. Die Veränderung des schlechten Bestehenden wird hier ohne verschwiemelte Befreiungsrhetorik, dafür mit umso mehr Praxisbezug und Realitätskenntnis diskutiert. Zum Beispiel von Peter Gabriel, Mitbegründer der legendären Popband „Genesis“, Videokünstler, Pionier der digitalen Musikproduktion und engagiert in humanitären Projekten aller Art. Bei der diesjährigen MIDEM in Cannes gab er vor einigen Monaten einen Einblick in sein künstlerisch-politisches Denken und wie er sich eine Veränderung der Welt vorstellt: Nicht mit Rezepten aus dem 19. Jahrhundert, sondern auf der Basis der heutigen Kommunikationsmittel und der herrschenden Marktmechanismen.

Für die Freunde sozialistischer Utopien mag das verwerflich klingen, doch konkreter als ihre nostalgischen Träume sind Gabriels Ideen mit ihrer Mischung von Zukunftsvision und Pragmatismus allemal. Aus ihnen sprechen die Frische und Unvoreingenommenheit eines im besten Sinn unternehmerischen Bewusstseins, das, ausgehend von der Analyse der Realität, auch das scheinbar Unmögliche zu denken wagt. Das wichtigste Mittel, um die Erste mit der Dritten Welt zu vernetzen und die Millionen Unterprivilegierter in den Ländern Asiens und Afrikas an eine bessere Existenz heranzuführen, ist für ihn die Kommunikation. Genauer: das Mobiltelefon. Es ist dort schon heute ein billiges Massenkommunikationsmittel. Und er zitiert eine junge Kenianerin, die in einer Sendung der BBC sagte: „Wir glauben nicht an das Rad und nicht an das Feuer, aber mit dem hier werden wir es schaffen“, und dem Interviewer ein Telefon in die Kamera hielt. Gabriel ist überzeugt: Mit dem Mobiltelefon ließen sich zum Beispiel in ländlichen Gegenden Bildung vermitteln und medizinische Hilfe leisten, das System der Minikredite würde wirklich massentauglich, Migranten könnten Geld nach Hause überweisen. Kinder, so Gabriel, sind neugierig auf neue Technologien, seien sie noch so arm, und wollen Teil dieser Welt werden, aus der sie bislang ausgeschlossen blieben. Es liegt an uns, ihnen den Weg freizugeben, indem wir sie unterstützen und zum Beispiel unser altes Telefon spenden. Eine Utopie? Vielleicht, aber durchaus konkret. Manchmal lohnt es sich, den U-Musikern gut zuzuhören.

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