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Probleme der Musikkritik und des Fußballs. Foto: Hufner
Probleme der Musikkritik und des Fußballs. Foto: Hufner
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Kritik der Kritik

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www.beckmesser.de (2014/07)
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Aus aktuellem Anlass geht es heute um Fußball und Musikkritik, und wir beginnen mit einem musikkritischen Stoßseufzer: Wie einfach hat es doch der Fußballkommentator! Er breitet sein Vokabular aus, redet von Viererkette, Pressing und Stellungsspiel und ähnlichen wohlklingenden Dingen. Und sollte er mit seiner Einschätzung einmal daneben liegen, macht das auch nichts, denn das einzige, was am Schluss zählt, ist das Resultat. Was nicht mehr zählt, ist das, was vorher gesagt wurde. Es wurde weggewischt durch die Macht der Fakten. Und durch die Erwartung auf das Kommende, denn, wie einst Sepp Herberger messerscharf konstatiert hat: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ Deshalb gilt auch für den Kommentator: Zurück auf Anfang, und mein Geschwätz von gestern ist vergessen.

Bei der Musikkritik ist es leider anders. Erstens gibt es hier keine Live-Kommentare, und zweitens kein ultimatives Dreizunull, das alle Argumente vom Tisch wischt. Folglich gibt es auch kein Vergessen, etwa wenn Andrea Gabrieli als komponierende Frau entdeckt wird oder einer beim frühen Schönberg von Zwölftontechnik redet. Beim Radio hieß es zwar früher im Fall von allzu offensichtlichen Dummheiten: „Das versendet sich.“ Wie bei der Fußballreportage. Doch heute sind auch im Radio die aktuellen Beiträge meist einige Tage im Web abrufbar und damit der Gnade des Vergessens zumindest kurzfristig nicht teilhaftig.

Was auf dem Papier steht, hat eine noch viel längere Halbwertzeit und kann zitiert werden, mit allen schiefen Meinungen, Behauptungen und Fehleinschätzungen. Ein willkommenes Futter für alle diejenigen, die sich in den Online-Foren gerne als Laienkritiker betätigen. Die Waffe der Kritik wendet sich damit gegen die Kritiker selbst. Die Zeit ist vorbei, da das Feld der Musikkritik ein weitgehend geschütztes Revier war, in dem die Akteure als unangefochtene Meinungsführer/-innen pfauengleich herumstolzieren konnten.

Die Rache der von der Kritik misshandelten Musiker, Komponisten und Veranstalter kann mitunter heftig sein, was dem Leser natürlich Spaß macht. Besonders lustig wird es aber dann, wenn die Kritik der Kritik von den Kritikern selbst kommt, wenn also, wie es so schön heißt, eine Krähe der anderen gegen alle Erwartung doch ein Auge aushackt. Das ist nicht ungefährlich, denn es gibt die unterschiedlichsten Retourkutschen, öffentliche und indirekte hinter den Kulissen. Die Szene ist übersichtlich und gut vernetzt.

Wer nun Namen erwartet, wird enttäuscht, denn zum Selbsterhaltungstrieb des freien Autors gehört ein Stück weit die Feigheit. Andere können sich schon mehr aus der Deckung wagen, zum Beispiel Frank Hilberg, der als WDR-Redakteur gleichsam mit einem institutionellen Schutzmantel umgeben ist. Wer möchte sich schon mit einem Musikproduzenten anlegen wollen, wenn der, wie er es nun in den „MusikTexten“ am Beispiel der Berichterstattung über Mark Andres Oper „Wunderzaichen“ getan hat, wortmächtig gegen das tägliche Elend der Musikkritik vom Leder zieht?

Abgesehen davon, dass er bei seiner Kritikerschelte offenbar den Sack schlägt und den Esel meint, also indirekt das Werk im Blick hat: Der Text ist bemerkenswert, weil er ein Defizit der Musikkritik – die Vernachlässigung der Inhalte zugunsten oberflächlicher Impressionen – offen anspricht, und das ohne Scheu vor großen Namen. Man kann ihm zwar ankreiden, dass er zu personenbezogen argumentiert und die strukturellen Probleme der Musikkritik, also die berühmten ökonomischen Sachzwänge, nicht in Betracht zieht: miserable Honorare und damit keine Zeit für gründliche Recherche, Mangel an Zeilen und Sendeminuten, wenn es um anspruchsvollere Dinge geht. Auch verkennt er, dass in der audiovisuellen Epoche die Tageskritik Teil des allgemeinen Entertainments geworden ist, wo nicht mit wissenschaftlicher Akribie, sondern mit unterhaltsamen, im besten Fall auch aussagekräftigen Formulierungen gearbeitet werden muss. Dass dabei manches auf der Strecke bleibt, was in einem seriösen Magazin gründlich abgehandelt werden kann, ist keine Frage.

Aber die Polemik hat zweifellos ihre guten Seiten, denn sie vermag vielleicht eine Diskussion unter den Fachjournalisten anzuschieben, die aufgrund des permanenten Berufsstresses aus dem Blickfeld geraten ist und schlicht auch verdrängt wird. Eine solche Diskussion hätte sich zum Beispiel der Frage zu stellen, wem gegenüber der Kritiker verantwortlich ist: dem Publikum, dem Medium, für das er schreibt, der weltanschaulichen Orientierung, die er verinnerlich hat, oder doch eher dem Künstler und seinem Produkt? Oder der Frage über die Möglichkeiten und Grenzen der kritischen Subjektivität: Wo fördert sie beim Leser die Lust am eigenen Nachdenken, wo verkommt sie zur Selbstdarstellung des eitlen Schreibers oder der Schreiberin?

Eindeutige Antworten gibt es nicht, nur Abwägungen und eine permanente Selbstkritik – der Rekurs auf die persönliche Selbstverantwortung derjenigen, die das Privileg haben, öffentlich über andere urteilen zu können. Fehlt diese, werden sie im Zeitalter der Blogs und Onlinekommentare selbst zum Gegenstand eines Shitstorms. Insofern dient die erwähnte Polemik bei aller Einseitigkeit auch als Denkanstoß für die Protagonisten eines Metiers, das in seinen Grundlagen gefährdeter ist denn je. Denn anders als die Fußballreportage ist die Musikkritik noch nicht vollständig in der abgesicherten Welt des Entertainments angekommen – zum Glück.
 

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