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Lieferte in Kassel mit „Terra Deserta“ ein Meisterwerk musiktheatralischer Zuspitzung: Marko Zdralek. Foto: Kasseler Musiktage
Lieferte in Kassel mit „Terra Deserta“ ein Meisterwerk musiktheatralischer Zuspitzung: Marko Zdralek. Foto: Kasseler Musiktage
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Kürten wie Kassel: Die neue Ökonomie von Musiktagen

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Musikfeste sind touristisch attraktiv und somit ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor - wenn sie gut laufen. Zuweilen muss Musik die Wirtschaft sogar ersetzen. In den mittlerweile auch nicht mehr ganz so neuen Bundesländern manchmal flächendeckend: Zwischen Nussknacker- und Flunderland findet Kultur ganz konkret durchökonomisiert statt.

Effizienz wird dann an Bettenbelegungszahlen und Saisonkräften ablesbar. In der alten Bundesrepublik, vor gut dreißig Jahren, meinte Hilmar Hoffmanns natürlich heute immer noch angebrachter Imperativ „Kultur für alle“, dass der von links beschworene Arbeiter in die Oper gehen und dabei „La Clemenza di Tito“ ohne Übertitel verstehen sollte (italienische Gastarbeiter hätten das vielleicht gekonnt). Der hehre Anspruch ist jedoch mittlerweile unter den Initialien „GmbH“ gewissermaßen vom Kopf auf realpolitisch fiskalischen Füße zwangsumgestellt worden.

Die Allgemeinheit könnte nicht jedes Bühnenbild bezahlen, wird heute so oder abgewandelt argumentiert, um damit einen Wettbewerb um Sponsoren anzukurbeln. Als Chef der Münchener Philharmoniker sagte James Levine einmal, er verstehe – wohl auch im übertragenen Sinn – das deutsche Subventionstheater gar nicht. In Amerika würde jeder, der eine gute Idee habe, natürlich auch einen Sponsor finden. Für alle, die jetzt klatschen, muss Levines Statement allerdings richtig gestellt werden: Natürlich zahlt auch in Amerika der Steuerzahler, das unbekannte Wesen, den durch das veranlagbare Sponsoring verursachten Steuerverlust. Amerika, du machst es nicht besser!

Ökonomisierung der (Musik)Kultur meint also nicht eine exakt intonierte und Schwindel erregend schnell gespielte Trillerabfolge bei möglichst wenig Kraftverlust des Spielers, sondern ein auf Gewinn und Verlust hin gerechnetes Kulturevent, wie jetzt in einer Karlsruher Tagung zum Thema „Kultur ≠ Humankapital“ sehr deutlich wurde. Bildungsinhalte bleiben auf der Strecke, wenn Bildung und Kultur rein auf Wirtschaftlichkeit und Effizienz hin ausgerichtet sind.

Umwegrentabilität

Auch die vielbeschworene Umwegrentabiltiät ist letztlich kein trifftiges Argument gegen die Kürzung bei den freiwilligen Leistungen der Kommunen. Es ist Verrat an der Sache, wenn Kunst auf Teufel komm’ raus Summe machen soll. Nach wie vor halten die Kommunen mit ihren Stadttheatern und der Versorgung der freien Szenen das Herz des Kulturlebens in Bundesdeutschland am Schlagen. Es kann gar nicht genug Geld in diesen Subventionsbetrieb fließen, denn diese Gelder nehmen niemand armes etwas weg. Genau das wird aber in der Umverteilungsdiskussion den Theatern eingeredet, bzw. mit solch einem künstlich erzeugten ökonomischen Klima der Schuldgefühle laviert.

Diese einzigartige Theater- und Orchesterdichte in Deutschland gehört in das UNESCO-Kulturerbe-Programm – mindestens genauso wie die französische Küche. Stopfohren voll guter Musik ist eine andere Kategorie als tierquälerische Stopfleber oder lebendzubereiteter Hummer. Was kam, nach Brecht, noch einmal vor der Moral? Wird demnächst auch Stierkampf oder die Vendetta prämiert?

Wage aber niemand über Kirchenchöre und Literaturkurse an Volkshochschulen die Nase zu rümpfen! Zum Glück gibt es sie, denn sonst gäbe es auch keinen einigermaßen lebendigen Literaturbetrieb. Darüber kann auch die erfreuliche Gründung von Literaturhäusern und Romanfabriken in den größeren Städten nicht hinwegtäuschen. An der Basis, beim potentiellen Hörer und Leser, wird ehrenamtlich sehr hart gearbeitet, um überhaupt etwas auf die Beine zu stellen. Vielleicht sogar ganz unzeitgemäß von studierten Hausfrauen? Aktive gibt es eben nicht nur beim Roten Kreuz, sondern auch in der Kunst. Das ist die Realität, und Provinz ist eigentlich da, wo sich in den Metropolen das Kunst-Jet-Set die Klinke in die Hand gibt und immergleiche Programme völlig losgelöst von den vorhandenen Strukturen einer Region abgespult werden, meinte Walter Abendroth bereits 1948 in Die Zeit. Lang Lang ist der Nigel Kennedy Lorin Maazels, könnte frei nach Henscheid bestätigt werden: Vielflieger unter sich. Allerdings, die programmatische Meinungsführerschaft eines Dirigenten als Orientierung vor Ort, der eine Balance finden muss zwischen den eigenen Interessen und denen der ansässigen Musikliebhaber, Komponisten, Verleger und auch Rundfunkanstalten, wie sie Lothar Zagrosek als Maxime guter Programme formuliert, klingt dagegen wie ein frommer Wunsch.

Genau hier aber, in den Ensembles und Ausbildungsstätten der Kommunen, findet musikalische Erziehung auch des Publikums statt. Für die oft diskutierte Krise des Repertoires sind vor allem All-inclusive Programme der Weltreisenden in Sachen Musik verantwortlich, nicht die städtischen Konservatorien und Orchester – übrigens fast durchweg bürgerliche Gründungen aus dem oft gescholtenen 19. Jahrhundert.

Kulturökonomie: Bayreuth und Salzburg machen es tourismusrelevant vor und – wohlgemerkt – bieten dabei höchste Qualität. Auch die Hotels und Pensionen in Donaueschingen stoßen während der Musiktage an ihre Kapazitäten, die Händeltage in Halle und das unmittelbar darauf folgende Bachfest in Leipzig ziehen etliche Musikliebhaber aus England und Übersee an, die dann mit einem Flugticket gewissermaßen „zwei Fliegen mit einer Klappe“ (Hindemith) schlagen können. Mehreren hundert Kursteilnehmer und etlichen Dozenten und Interpreten sind bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik ebenfalls ein nicht zu verachtender Wirtschaftsfaktor, von dem nicht nur die Eisdiele neben der Straßenbahnhaltestelle Orangerie, wo die Konzerte meist stattfinden, profitiert, und selbst Kritiker müssen ihre Wagen tanken.

Diese Feste sind entweder ein dienstreisenintensiver Branchentreffpunkt, eine Art Messe, bei der Vertragsabschlüsse in Form von weiteren Engagements oder Kompositionsaufträgen getätigt werden damit die Uraufführungskonjunktur brummt oder sie sind ein künstlerisch hochkarätiges gesellschaftliches Ereignis mit entsprechendem Habitus und Portemonnaie. Vielleicht sind sie sogar beides, wenn man den diesjährigen Salzburger Schwerpunkt auf das Werk von Wolfgang Rihm bedenkt. Da war Darmstadt auch in Salzburg. Seine Musik ist ja nicht gefälliger geworden, nur weil sie in Salzburgerklingt. Sie ist nach wie vor ein starker Tobak!

Kürten, Stockhausen-Stadt

Bayreuth und Salzburg, auch Darmstadt, stehen schon mit ihren Städtenamen fest verankert in der Festivallandschaft. Was aber ist mit Kürten und Kassel, also Städten, bei denen scheinbar nicht sofort zum kleinen Schwarzen und Smoking gegriffen werden muss, wenn es um Musik geht. Oder doch?

Die bergische Stadt Kürten erkennt jetzt langsam die gewaltige musikalische Potenz ihres komponierenden großen Sohnes, wie es umarmenderweise meist heißt. Der Rathaus-Vorplatz heißt bereits Karlheinz-Stockhausen-Platz. Stockhausen-Stiftung und Stadtrat planen gemeinsam weiteren Aktivitäten. „Wir wollen auf dieser Welle reiten,“ bekannte kürzlich Rainer Stahlke (FDP), Vorsitzender des Kürtener Ausschuss’ für Wirtschaftsförderung, Tourismus, Kultur und Verkehr. Seine Hoffnung ist die Entwicklung von Stockhausen zu einer Marke für Kürten. Stockhausen-Kurse mit ca. 150 Teilnehmern gibt es ja schon lange. Kommt als nächstes die Stockhausen-Gesamtschule zum „Licht“-Gesamtkunstwerk?

Die Lehrer der Kürtener Gesamtschule sind jedenfalls dazu entschlossen, mit den Schülern seine Werke zu erarbeiten. Im Gegenzug stockt die Stockhausen-Stiftung die katholische öffentliche Bücherei mit Stockhausen-Literatur auf, ab Januar 2011 gibt es dann im Rathaus eine Ausstellung zum 35-jährigen Bestehen des Stockhausen-Verlags: Es ist nie zu spät!

Spagat zwischen Alt und Neu: die Kasseler Musiktage

In Kassel wird den Brüdern Grimm und dem Deutschen Tapetenmuseum bald ein eigenes Haus gebaut werden, unweit vom Museum für Spulkralkultur – geht doch! Eine Heinrich-Schütz-Gesamtschule und eine Heinrich Schütz Allee gibt es natürlich schon lange. An der liegt das Stammhaus des Bärenreiter-Verlags mit dem Büro der Kasseler Musiktage, die es in wechselvoller Gestalt seit über siebzig Jahren gibt.

Dieter Rexroth, seit 2006 künstlerischer Leiter dieses traditionsreichen deutschen Musikfestes, das einmal ein Zentrum avantgardistischer geistlicher Musik war, kennt Gönner und kann rechnen. Die Konzertprogramme gibt er allerdings nicht der Ökonomie preis, sondern dreht den ökonomischen Spieß einfach um, mit Minderheitenschutz für bedrohte Musikarten, sprich: Neue Musik. In den letzten vier Jahren hat er den Etat des mittlerweile auf mehr als zwei Wochen ausgedehnten Festivals von 287.000 auf 426.000 Euro aufgestockt und erwirtschaftet dabei 75 Prozent aus Drittmitteln und Eintrittsgeldern. Sogar das in diesem Jahr in die Kasseler Musiktage hineingebaute Fest der Internationalen Heinrich Schütz Gesellschaft mit der Überschrift „Heinrich Schütz und Europa“ konnte aus dem Etat der Kasseler Musiktage bezahlt werden.

Also gilt auch in Kassel, was einst Hindemith über die Verwendung seiner konzertanten Kammermusiken meinte: „Zwei Fliegen mit einer Klappe.“ Rexroth nutzte das damit einhergehende Vokale und setzte die Stimme gewissermaßen im Festivalmotto „Kreuzungen –Elend und Glanz“ programmatisch ein. Einunddreißig Veranstaltungen an zehn Spielorten inklusive Schützvorträgen, historischem Stadtspaziergang und dem fast schon unvermeidlichen Schulprojekt brachten die herbstlichen Herkulesstadt in zweieinhalb Wochen zum Klingen. Den Spagat zwischen Altem, dass nach Carl Dahlhaus im Konzertbetrieb das ästhetische Neue ersetzte und dem wirklich Neuen funktionierte. Mehr noch: Spurenelemente des einstmals avantgardistischen Musikfesten weiten sich mittlerweile zu wieder gepflegten Pfaden ins Neuland aus. Immerhin brachte das Eröffnungskonzert mit dem Staatsorchester Kassel – augenzwinkernd - ausschließlich Werke des 20. Jahrhunderts von Ján Cikker, Gustav Mahler und Karl Amadeus Hartmann, also allesamt von Schwellenkomponisten.

Schon 2006 verblüfften die Musiktage mit einem großen Komositionswettbewerb und Preisträgerkonzert. Jetzt waren es die renommierte italienische Komponistin Lucia Ronchetti mit einer raumgreifenden, fast schon an Nonos „Prometeo“ gemahnenden, halbszenisch-oratorische Überkomposition von Schütz’ „Musikalischen Exequien,“ der nicht minder fleißige Philipp Maintz und die Entdeckung der Musiktage, Marko Zdralek, mit denen man sich auf dem Materialstand der Zeit zu bewegte.

Fast konnte der Eindruck entstehen, hier in Kassel einmal in Ruhe einige der Komponisten und Künstler hören und unter die Lupe nehmen zu können, für die im guten Trubel der Münchener Biennale oder den Darmststädter Ferienkursen für Neue Musik oft die Zeit fehlt. Maintz etwa: Seine Oper „Maldoror“ war in München ein Achtungserfolg. Musikalisch und inszenatorisch eine rabenschwarze Parabel auf Brechts Frage, ob der Mensch dem Menschen hilft. Eben nicht, er meuchelt ihn lieber, wenn er kann, lautet Maintz’ Antwort.

In Kassel wurde sein „Septemberalbum“ nach prosaisch beiläufig wirkenden Gedichten von Ron Winkler mit der künstlerisch unbestechlichen Sopranistin Marisol Montalvo, die im Frühjahr in Maintz „Maldoror“ die Hauptrolle sang, sehr erfolgreich uraufgeführt. Mit feinem Melisma an den Versenden, expressiven Ausbrüchen und Schwankungen und obsessiven Höhenflügen veranschaulichten Maintz/Montalvo Winklers prosaische Herbstmetaphorik in einen spätsommerlichen Abschiedsrausch. Es erinnerte in den zurückgenommenen Passagen wegen ähnlich bildlicher Wortausdeutung an Reimanns viertelstündig unbegleitetem Anti-Antomkraft-Lied „entsorgt.“

Jeremias Schwarzer (Blockföten) bereist die Neue Musik-Szene landauf, landab und auch der Countertenor Kai Wessel ist eine Berühmtheit in der Szene, sang er doch in Isabel Mundrys Odysseus an der Deutschen Oper Berlin die Titelrolle. In Kassel spielten und sangen sie gemeinsam in dem wunderbaren Konzertraum „Südflügel“ des Kasseler Kulturbahnhofs in Marko Zdraleks „Terra Deserta“ nach Motiven und Texten von Christoph Ransmayr eher unbekannteren Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Hier wird die Innen- und Außenwelt einer im aktischen Packeis mehrere Jahre gefangenen Schiffsbesatzung einer österreichisch-ungarischen Expedition im 19. Jahrhundert beschrieben.

Marko Zdralek, Jahrgang 1973 und ehemaliger Winbeck-Schüler in Würzburg, hat für diesen gewissermaßen zeitenthobenen, weil extrem verlangsamten Seinszustand mit den schon genannten sowie dem Schlagquartett Hermann Schwander, Ann-Cathérine Heinzmann (Querflöten), Corinna Zimprich (Kontrabass) und Markus Schäfer (Tenor) wahrlich eine Musiksprache gefunden, die mindestens auf fünfzehn Arten versucht, die Beschaffenheit von Eis und Finsternis zu beschreiben. Das sind tiefste Lagen, metallisches Hallen im horizontlosen Raum auf den kleinen Crotales - und statt Entwicklung des Materials werden fatal-finale Zustände von Musik präsentiert: Ein Meisterwerk musiktheatralischer Zuspitzung ohne Netz und doppelten Boden. Instrumental und elektronisch driften die Klangblöcke aufeinander zu, entfernen sich in der Hoffnungslosigkeit mancher genial trocken-körperlich von Patrick Blank rezitierten Textpassage.

Wort und Musik stehen sich oft unvermittelt gegenüber, wie der Mensch in seiner hier ausweglosen Geworfenheit in die arktische Welt. Hier gibt es keine Kompromisse, Forderungen. Ökonomie, auch die musikalische, ist auf die Herzfrequenz reduziert, den Puls, den es im Griff zu halten gilt, um einerseits lebenserhaltend schnell genug zu schlagen, aber auch nicht zu schnell, um möglichst wenig Kalorien zu verbrauchen und den Hunger zu bändigen, auch den nach Licht. Das ist Ökonomie. Der Kontrabass fungiert gewissermaßen als klangliche Abbruchkante der kalbenden Gletscher, während der Countertenor sphärisch barockes Zeremoniell evoziert. Sind das die schönen Bilder, vor dem Erfrierungstod kontrastierende Verzierungstechnik, als das Ornament noch Teil der Kunst war und zur Diskussion stand?

Marko Zdralek stellt genau diese Fragen. Raum statt Harmonie. So baute er seinen an die alte Hoquetustechnik des frühen Organum gemahnenden Gerüstsatz. Jeremias Schwarzer überführt dieses Skelett mit enormem Farbenreichtum auf den Blockflöten in schillernde, phantasmagorische Girlandenwelten. Sein frappantes Spiel auf der celloartig drappierten Großbass-Blockflöte schiebt den Permafrost in die Zeit, die von der Elektronik noch mehr vereist und verlangsamt wird. Der noch recht unbekannte Zdralek hat die Gunst der Stunde bei dieser wunderbaren Besetzung genutzt und künstlerisches Kapital daraus geschlagen. Merke: Wer Wille und Vorstellung hat, hat auch die musikalische Welt, antworten wir Levine. Schützfaktor neutral.

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