„Ach! wir kennen uns wenig“, zitiert auf Seite 1 unsere Autorin Irmgard Merkt den Dichter Friedrich Hölderlin und verdeutlicht damit das transkulturelle Dilemma der derzeitigen Migrationsbewegungen. Dabei scheint nichts besser geeignet für den Kulturaustausch als eine Sprache, die jeder versteht: die Musik.
Nehmen wir die Band des Nigerianers Adé Bantu, die jetzt auf dem Bürgerfest des Bundespräsidenten im Park des Schlosses Bellevue auftrat. Im Zentrum dabei die Rolle, die Musik in einer Gesellschaft einnehmen kann. Für die Sache der Völkerverständigung stehen auch zahlreiche internationale Auftritte des Bundesjugendorchesters, das dieses Jahr durch die Mega-Metropolen Chinas reiste. Oder ganz aktuell syrische Musiker, die sich in Deutschland zusammenfinden, um gemeinsam mit Deutschen zu musizieren und zu sagen: „Unsere Instrumente sind unsere Waffen.“ (siehe auch Seite 4)
Ganz explizit schreibt sich das Jugendorchesterfestival Young Euro Classic die Politik auf die Agenda: „Young Euro Classic befördert mit seinen Orchestern aus aller Welt die Wertediskussion. Das Orchester als utopisches Miteinander, als Gesellschafts- und Gemeinschaftsmodell der Teilhabe: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Hier wird auf höchstem Niveau von jungen Musikern das gepflegt, was die europäische Orchester-Kultur seit Jahrhunderten auszeichnet, nämlich ihre grenzüberschreitende und integrative Funktion – im Zeichen von Begegnung, von Austausch, von einem Miteinander in friedlicher Koexistenz. In diesen krisenhaften Zeiten sind diese Werte – von Nahost bis Russland/Ukraine – eine wichtige Botschaft.“
Freude schöner Götterfunken? Diesen Kuss der ganzen Welt? Der Musiker als der geborene Botschafter? Schön wär‘s, aber leider ist es nicht wahr. Aus dem Botschafter kann schnell der Propagandaminister werden. Wie schnell das gehen kann, zeigt uns etwa eine Meldung von der Krim, wo seit 2003 das Jazz-Festival „Koktebel Jazz Party“ stattfindet, das seit der Annektierung der Krim durch Russland gerne und reichlich Pressereisen für deutsche und internationale Journalisten anbietet.
Nun, man muss sich nicht freiwillig zum eingebetteten Journalisten machen lassen. Aber auch als Musiker gerät man heute leicht zwischen die Fronten. Etwa wenn das US-Außenministerium dem Saxophonisten Igor Butman – Inhaber sowohl der russischen als auch der US-amerikanischen Staatsangehörigkeit – in einem Brief abrät, auf dem Festival zu spielen. Butman fühlte sich zurecht gerade in eisigen Zeiten dem Kulturaustausch verpflichtet und ging dennoch auf der Krim seinem Job nach. Über die Folgen liest man auf der russischen Homepage www.sputniknews.com der internationalen Nachrichtenagentur Rossiya Segodnya für die das Russische Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin presserechtlich verantwortlich zeichnet. Während sich beim Sputnik der Eindruck aufdrängt, man befinde sich mitten in einer prorussischen PR-Kampagne, kam das Thema in westlichen Medien nicht einmal vor.
Wie die Macht der Politik die Macht der Musik in Frage stellen kann, konnte man auch in München erleben. Dort gab Mitte September Valery Gergiev seinen Einstand bei den Münchner Philharmonikern mit Mahlers „Auferstehungssinfonie“. Eine Sinfonie, die ein Programm hat und philosophische Menschheitsfragen stellt. Geradezu dialektisch gab sich Gergiev im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Er sah zum einen keinen Einfluss der politischen Spannungen zwischen Russland und den westlichen Ländern auf das Musikleben.
Er betonte aber vehement, dass die historischen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland wichtig für die Welt seien: „Wir müssen alles tun, was es braucht, um einen weiteren großen tragischen Konflikt zu vermeiden. Da hinein sollte viel Arbeit investiert werden, und zwar nicht nur von Diplomaten. Auch die Bedeutung der kulturellen Botschafter ist hoch.“
Nehmen wir Gergiev beim Wort und wünschen uns, dass er – wie bereits sein Vorgänger Thielemann – mit den Münchnern so oft als möglich nach Russland fährt – es muss ja nicht gleich die Krim sein. Und dass wir sein Orchester des Mariinsky Theaters Petersburg wie beim Schostakowitsch Zyklus mit den Münchnern weiterhin regelmäßig zu Gast haben. Denn auch wenn Kulturaustausch gewiss nicht nur aus dem Austausch von Nettigkeiten bestehen kann, brauchen wir ihn mehr denn je. Oder besser: immer wieder aufs Neue. Denn Werte wie „utopisches Miteinander“, „Begegnung“ oder „Miteinander in friedlicher Koexistenz“ nutzen sich ab, wenn sie zu routinierten Konzertformaten erstarren.