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Kultureller Freihandel

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www.beckmesser.de (2013/07)
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Mitte Juni war die Lichtgestalt Obama in Berlin, und da wurde regierungsoffiziell neben Terror und Internetüberwachung auch über das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA gesprochen. Kommt es zustande, entsteht ein riesiger gemeinsamer Markt mit Nutzen für beide Seiten – man spricht von zwei Millionen neuen Arbeitsplätzen, 180.000 allein für Deutschland.

Große Politik, aber uninteressant für die Kultur? Wer das glaubt, weiß nicht, was Kulturindustrie heißt. Das Wort hat eine doppelte Bedeutung, je nachdem, ob man den Akzent auf Kultur oder auf Industrie legt. Wirtschaftsinteressen und kulturell-künstlerische Interessen überschneiden sich. Die Industrie denkt strikt funktional und gegenwartsbezogen, die Kultur hingegen hat mit dem schwierigen Begriff Identität zu tun: mit den ethnischen Wurzeln der Menschen, ihrer Geschichte, ihren Lebensgewohnheiten und Wünschen – ihrem Bewusstsein ganz allgemein. Und hier wird es interessant. Soll das Freihandelsabkommen, das unter wirtschaftlicher Sicht zweifellos zu begrüßen ist, auch die Kulturindustrie einbeziehen? Die Frage schien bisher für die Politkommissare in Brüssel wenig relevant, ein Ja war selbstverständlich. Für sie wie für alle Funktionäre ist Kultur eine dekorative Zugabe, praktisch für Repräsentationszwecke und angenehm, wenn es um Freikarten für Netrebko, Madonna & Co. geht. Und falls man sich den Medienmultis als politischer Lakai anbietet, kommt man obendrein zu exklusiven Abendessen.

Der Mangel an Sensibilität im Umgang mit der Kultur wurde von Michael Hanfeld, Medienredakteur der FAZ, so kommentiert: „Mit dem Freihandelsabkommen verhält es sich wie mit all den Verfahren, mit welchen die EU-Kommission die Menschen in den Mitgliedsländern quält: Vordergründig geht es um freien Handel und Wachstum, im Kern aber geht es um etwas anderes – Totalökonomisierung, Monopolkapitalismus, Angleichung gesellschaftlicher Grundverabredungen und Lebensweisen.“ Gut erkannt. Es geht nicht um die große Freiheit einer Kultur ohne Grenzen, sondern um Gleichmacherei, gesichtslose Internationalisierung und Kontrolle, ermöglicht durch die Globalisierung der Medien und das Internet.

Wer glaubt, die Probleme seien gelöst, wenn man das „kulturlose Hollywood“ vom europäischen Markt fernhalten könne, täuscht sich. Binnenmarkt-Kommissar Michel Barnier, zuständig für die „Harmonisierung“ der Kommunikation innerhalb der EU, will im Grunde genommen nichts anderes als Hollywood, nur eben auf europäisch. Es geht ihm mitnichten um eine freie Entfaltung der kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten der europäischen Völker, sondern schlicht und einfach darum, die nationalen Gesetzesschranken zu beseitigen, die den internationalen, also auch europäischen Multis bislang die Markterschließung erschwert haben.

So erweist sich das Kasperletheater-Motiv „Europa gut, Amerika böse“ nur als Ablenkung von den Interessen der kulturell Mächtigen, die überall dieselben sind: Aufteilung des globalen Markts unter sich nach eigenen Regeln, und die Politik hat dazu gefälligst den Boden zu bereiten. Und weil das am besten mit Standardware funktioniert, favorisieren sie kulturelle Ausdrucksformen, die in Rio und Riga, in Südafrika und Südhessen gleichermaßen Akzeptanz finden. Adressat ist ein Konsumententyp, der seine kulturelle Identität über das Angebot definiert, das ihm die virtuelle Einkaufsmeile bereithält. Regionale, traditions- und geschichtsbewusste Ausdrucksformen sind nur noch interessantes Lokalkolorit, Geschmacksverstärker für den globalen Sound. Der Traum der Gleichheit wird verwirklicht als Gleichheit aller vor dem Markt.

Die Netzgläubigen empören sich neuerdings über den heimlichen politischen Missbrauch des Internets durch die USA-Regierung und glauben, in Europa könne das nicht passieren. Über den offenkundigen kulturellen Missbrauch empört sich kaum jemand. Im Gegenteil, man verlangt More of the same, und das möglichst gratis. Doch warum sollte ausgerechnet die Massenmusik, Droge für Abermillionen vorwiegend junger Menschen, von Kontrolle und Manipulation frei sein? Auch hier kann man bekanntlich Benutzerprofile erstellen und herausfinden, welche Gruppen wie und worüber miteinander kommunizieren. Und anders als das Wort zielt die Musik direkt auf die Gefühle. Die multinationalen Erziehungsagenturen der sogenannt freien Welt samt ihren ideologischen Gegenspielern am Golf wissen das und feilen zielstrebig an ihren medialen Strategien, um das Bewusstsein und die Gefühle der Menschen unter Kontrolle zu bringen.

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