+++ Angela Merkel weiht in Greifswald einen Versuchsreaktor ein, in dem daran geforscht werden soll, wie man Wasserstoff-Atomkerne zur Energiegewinnung verschmelzen kann. +++ Die Landeskapelle Eisenach und die Thüringen-Philharmonie Gotha stehen kurz vor einem politisch gewollten Zusammenschluss. +++
Auf den ersten Blick haben diese beiden Meldungen genau nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten Blick vielleicht, dass beides kaum Medienresonanz, geschweige denn Stirnrunzeln oder gar Empörung auslöst. Ist das der schleichende Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg … aus der Atomenergie beziehungsweise aus einer Kulturpolitik der Fläche? Aber wenn man mit einem Rasterelektronenmikroskop noch näher herangeht, dann erkennt man, dass es eine wichtige Gemeinsamkeit gibt: die Fusion als Ziel. Denn Kernspaltung war gestern; da gähnt der gemeine Atomphysiker nur müde. Im Wahlkreis unserer Physik-Kanzlerin wird erforscht, ob Energieerzeugung durch das Zusammenbringen von Wasserstoff-Molekülen möglich ist, identischen wohlgemerkt. Mehr Output bei weniger atomarem Restmüll.
Bei Orchestern soll das ja genau so sein. Wünschen sich die Entscheider zumindest. Das Beste aus beiden Ensembles ist nur gut genug für den neu entstehenden Klangkörper; und der leuchtet dann viel heller. Diese Strahlkraft hat er auch dringend nötig bei den ganzen Abfallprod… äääh nicht übernommenen / gekündigten / sozialverträglich abgebauten Musikern, die beim Arbeitsamt zwischengeparkt werden – Endlagerfrage hier wie dort ungeklärt.
Da rattert der Geigerzähler
Dass es sich bei den zu verschmelzenden Orchestern aber fast immer nicht um eineiige Musizier-Kraftwerke handelt wie bei Wasserstoffatomen, wird gerne übersehen. Unterschiedliches Kern-Repertoire, einzigartige Ausstrahlung, individueller Musikmix vor und für den Ort produziert, statt homogener Fernversorgung. In aller Munde ist ja das ab der Saison 2015/16 geschaffene SWR Sinfonieorchester – die kulturpolitische Begeisterung darüber ist so groß wie bei der Entdeckung eines neuen Elements. Ich werfe hiermit als Untertitel-Vorschlag in den Ring: Boudgoustium. Einer Supernova gleich, soll es dann den ganzen Südwesten bestrahlen. So hell, dass selbst die Entscheidungsträger in Berlin ihre Sonnenfinsternisbrillen wieder auspacken müssen. So kräftig, dass die Landes- und Kommunalpolitiker in Thüringen ihren Blick vom gefühlt näheren Tschernobyl oder dem belgischen Doel abwenden und fasziniert Richtung Stuttgart schauen … und selten einstimmig und flugs wie nie eine Verschmelzung von zwei Orchestern durchnicken. Allein die Halbwertszeit des neu mutierten Orchesters ist wissenschaftlich noch nicht exakt ermittelt worden.
Ich möchte an dieser Stelle nicht ins Detail. Da haben andere Kolleginnen und Kollegen wesentlich besser fundierte Expertisen geschrieben. Aber grundsätzlich möchte ich etwas anmerken: Vor allem in der Thüringer Orches-terdebatte scheint mir die Haltung in der schreibenden Zunft doch eher eine defensive zu sein, ja sogar konsterniert und rein konstatierend. Es fehlt mir der Bekenntniswille in der Presse – für und aus einer aufbegehrenden Bürgerschaft heraus. Nirgendwo hört man „Fusionskraft, nein danke!“, keine Gründung einer neuen Protestpartei namens „Die Kreativen“, wie etwa in den 80ern. Ich bin es etwas leid, dass es immer nur darum gehen soll, die neue Demarkationslinie in den kulturellen Grabenkämpfen möglichst wenig (seltenst: gar nicht) zurückzuversetzen. Dass nach monate- und jahrelangen Diskussionen eine Bewahrung des Status quo als (Pyrrhus-)Sieg gelten muss.
Daher schlage ich an dieser Stelle den konsequenten Schritt in die Offensive und für die Zukunft vor – alle Atomphysiker jetzt bitte weghören, ausgenommen Frau Dr. rer. nat. Angela Merkel. Ich fordere:
Energie freisetzen durch Orchesterspaltungen
Meine musik-energetische Agenda in verknappten Parolen zusammengefasst und daher Wahlkampf-optimiert (irgendwo ist immer Wahlkampf) lautet wie folgt: Musik-Grundversorger bewahren. Spezialensembles ausgründen. Dadurch Arbeitsplätze schaffen. Positiv aufgeladener Nebeneffekt: Auch das Interpretations-Kartellamt würde sich freuen, über mehr Bandbreite, über eine wesentlich angereicherte und bereichernde Kulturlandschaft; blühend und nicht verstrahlend.
Musikanzler braucht das Land
Ich garantiere: Für die Person oder Institution aus Politik, Rundfunk oder vielleicht sogar freier Wirtschaft würde ein nobler Preis für Musik ins Leben gerufen und vergeben werden; das wäre ein kulturpolitischer Durchbruch für die Ewigkeit!