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Kulturtechnik

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Früher war noch die Rede von Maltechnik und Kompositionstechnik, doch seit alles in der Welt Kultur ist, sind solche Bezeichnungen im Begriff Kulturtechnik aufgegangen. Und da zur Welt auch die Unterhose und ihr Inhalt gehört, muss selbstverständlich auch von einer Kulturtechnik der Unterleibsorgane gesprochen werden. Genau dieser Aufgabe unterzieht sich im Zusammenhang mit einem Buch der Autorin Charlotte Roche derzeit das deutsche Feuilleton. Es geschieht mit akribischer Gründlichkeit, denn Aufklärung kennt bekanntlich keine Tabus.
Die Süddeutsche Zeitung klärt in diesem Zusammenhang über die Kulturtechnik der Körperbehaarung auf: „Weibliches Achselhaar, unschuldig getragen, transportiert daher eine subtile, aber erschreckende Botschaft: schlechter Sex, gefolgt von sofortiger Schwangerschaft. Das bewusst getragene weibliche Achselhaar dagegen bedeutet das genaue Gegenteil, nämlich eine besonders intensive, ja obsessive Beschäftigung mit Sex und Lust.“
Bekanntlich lassen sich einmal gemachte Erkenntnisse nicht mehr rückgängig machen, handle es sich nun um Atome oder Achselhaare. Da stellt sich die Frage: Wie verhalte ich mich angesichts dieses Aufklärungsprozesses, der die letzten bislang im Dunkeln gehaltenen Körperzonen ins helle Licht der Öffentlichkeit holt? Muss Mann sich nun in Frau Roches Buch über die Kulturtechnik des weiblichen Geschlechtsorgans informieren, um endlich zu wissen, wie es geht? Muss Frau in der U-Bahn bei ihrem männlichen Gegenüber feststellen, ob er links oder rechts trägt, um sein Aggressionspotenzial einzuschätzen?

Die Unterhose ist zu einem unerschöpflichen Quell der Erkenntnis geworden. Das haben nicht nur unsere Theaterregisseure erkannt. Auch fleißige Musikwissenschaftler und -innen haben längst gemerkt, wie öffentlichkeitswirksam es ist, wenn sie sich den Objekten ihrer Begierde nicht nur über den üblichen biografischen und werkbezogenen Papierkram nähern, sondern ihnen ganz direkt zu Leibe rücken, etwa mit dem Blick in besagtes Kleidungsstück. Was natürlich – Fluch der Sekundärwissenschaft – in den meisten Fällen auch wiederum nur symbolisch, über papierene Dokumente und nicht durch praktische Feldforschung geschehen kann. Auf dem Weg über die sexuelle Ausrichtung erhoffen sie sich offenbar Aufschlüsse über die Ästhetik eines Komponisten.

Als vor einigen Jahren eine amerikanische Musikologin Beweise für Händels Homosexualität glaubte gefunden zu haben, wurde das von deutschen Muwis im Internet als bedeutendes Ereignis gefeiert. Dabei erbringt eine solche Schnüffelei bei einem toten Komponisten ebenso viel Erkenntnisse über das Werk wie die Feststellung, Beethoven habe bei der Arbeit an der Neunten durchschnittlich ein halbes Glas Heurigen am Tag mehr getrunken als sonst.

Wenn schon, dann wäre es sicher weniger spekulativ, solche Fragen in Bezug auf lebende Komponisten zu stellen. Man müsste keine detektivischen Forschungen anstellen, da es erstens genügend Fälle gibt und zweitens viele von ihnen vermutlich auch auskunftsbereit wären; Hans Werner Henze etwa hat das schon vor über zwanzig Jahren in einem Filmporträt getan. Doch sie möchten dieses Thema, das im Grunde genommen nur sie etwas angeht, sicher nicht auf dem Marktplatz verhandeln.

Und das ist denn auch der Haken bei diesem wie auch immer wissenschaftlichen Interesse an der Intimsphäre anderer Menschen, ob Künstler oder nicht.

Es geht eben nicht einfach um Fallstudien von angeblich öffentlichem Interesse, sondern es handelt sich immer auch um Menschen mit einem Recht auf Privatheit. Ein toter Händel kann nicht mehr Einspruch erheben. Aber ein lebender Komponist würde sich zu Recht dagegen wehren, von jedem/jeder Spießbürger/-in unter wissenschaftlichem Vorwand auf seine privaten Neigungen durchleuchtet zu werden. Der Schriftsteller Maxim Biller versuchte gegen den Willen der Betroffenen etwas Ähnliches, wofür sein Buch verboten wurde. Hier stößt, was heute unter den ohnehin depravierten Begriff der Aufklärung fällt, auf seine Grenzen.

Dafür gibt es nun auch die Brüsseler Antidiskriminierungsgesetze. Aber wer sie bloß als zivilisatorischen Fortschritt betrachtet, übersieht etwas Wesentliches: Moralisches Verhalten, eine Fähigkeit des Individuums, wird damit von einer Megabehörde geregelt, der Verlust der für das Zusammenleben in der Gesellschaft unverzichtbaren Scham und des Respekts vor dem anderen durch Paragraphen wettgemacht.

Strafandrohung mag als letzte Option richtig sein, hält aber den Zerfall des Individuums nicht auf. Die aktuelle Feuilletondebatte ist dafür ein Indikator. Hier wird niemand diskriminiert, sondern nur munter Exhibitionismus im Medium der Sprache getrieben und ganz nebenher die öffentlichen Hemmschwellen auf ein Niveau gesenkt, das Andere einmal auf ganz untheoretische Weise für sich nutzen werden. Im Setzen von Fortschrittsmarken sind die Kulturtechniker groß, doch von Technikfolgenabschätzung scheinen sie noch nichts gehört zu haben.

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