Wer in dieser Ausgabe der nmz einige Seiten nach vorne blättert, der wird in der Beckmesser-Kolumne auf folgende Sätze stoßen: „Jeder Schmarren kann sich heute als Kunstwerk deklarieren und sich mit diesem behaupteten Sonderstatus in den öffentlichen Diskurs einklinken… Solange sich das nur im Kulturbereich abspielt, kann man getrost darüber hinwegsehen, denn das Herumgerede gehört hier zum Geschäft und schadet weiter nicht.“ Das mit dem „Schmarren“ mag schon stimmen, dennoch gibt es einiges zu entgegnen. Zum einen ist das Phänomen nicht neu, schon immer konnte jemand, der sich als Künstler empfand, mit einem Machwerk nach Außen treten und durfte sogar auf breiteren Diskurs hoffen, wenn der Sensationswert hoch genug angesetzt war. Es muss also nicht über die schlechte Gegenwart gejammert werden, auch wenn deren Kanäle in die Öffentlichkeit vielleicht noch willfähriger dem Öden und Seichten geöffnet werden.
Der Künstler, der in aufrichtigem Bemühen ein Erleben, eine Wahrnehmung oder was auch immer (eine Botschaft?) den anderen mitteilen möchte, leidet unter dieser desolaten Vermittlungssituation ebenso. Und er kann im Grunde nur hoffen, dass er mit seiner Arbeit auf offene Sinne stößt, die sich noch nicht korrumpieren ließen. Nicht aber sollte denen unfreiwillige Argumentationshilfe geliefert werden, die unter Beifall dumpfer Massen alles neue künstlerische Tun als „Schmarren“ abtun.
Das eben ist Aufgabe der Kunstkritik: zu helfen, dass das Wahrnehmen geschärft wird, dass Schönes im Ungewohnten entdeckt wird, dass Tiefen in noch nicht beschrittenen Regionen ausgemacht werden. Solche Befähigungen wissen dann auch den „Schmarren“ zu identifizieren, der sich freilich in immer neuen Verkleidungen in den Kunstbereich drängen wird. Das ist nicht schlimm, solange das kritische Rüstzeug intakt ist, ja es mag sogar zur Qualität einer offenen ästhetischen Landschaft gehören. Was wäre übrigens die Alternative? Die Vorsortierung durch Kunstwächter? Das Verbot? Solches wäre fatal, fataler jedenfalls als unsere Überschwemmung mit Unkultur, in dessen Strömen wir wie Goldsucher nach Qualität und Bestand fahnden.
Auch der zweite Satz ist zu hinterfragen. Ist Kultur wirklich ein Bereich, der sich im Herumgerede genügt und dadurch sonst keinen gesellschaftlichen Schaden anrichtet (im Gegensatz zu den Regionen von Ethik oder Moral)? Wäre es so, dann wäre es an der Zeit, hinter dem Kapitel Kultur in der Menschheitsgeschichte die Seiten zu schließen. Dann aber kann man auch gleich das Kapitel Mensch abschließen. Denn immer noch verstehen wir den Menschen als geistig-sinnliche Ganzheit. Eine Gesellschaft, die in der Kultur alle Maßstäbe fallen lässt, wird auch in anderen Bereichen keine Orientierung finden. Es kann wohl keinen Sinn fürs Ethische geben, wenn die Sinne für das Schöne und Tiefe vollständig ausradiert sind. Das Herumgerede mag vielleicht zum Kunstgeschäft gehören, aber das ist nicht das Geschäft der Kunst (also das, wofür sie geschaffen wurde). Hier nämlich geht es um das Vorantreiben, das Ausweiten menschlicher Erfahrung, um das innigere Begreifen des Sinns, um das Hineinleuchten in das letztlich unergründliche Geheimnis des Seins. Hier nach Kriterien der Verwertung zu fragen, darf man ruhig den Managern überlassen. Sollen sie sich bereichern an den von ihnen feilgebotenen Kunstprodukten, reich werden im tieferen Sinne werden die, die sich der Kunst in immer neuer Neugier und Offenheit stellen. Aus dieser Warte wird man die Werte Schönheit, Moral oder Wahrheit nicht mehr auseinander dividieren können. Und auch nicht Kunst und Leben.