Am 24. September 2007 tickerte folgende Nachricht in die Redaktion: „TV-Moderator Götz Alsmann (50) wünscht sich im Fernsehen mehr „Häppchenklassik“. „Der Klassikmarkt krankt traditionell an seinem elitären Gehabe. Diese Häppchen machen Appetit auf mehr“, sagte der studierte Musikwissenschaftler und Moderator der ZDF-Klassik-Sendung „Eine große Nachtmusik“ der „Welt am Sonntag“. Er sei zudem froh, „dass die viel geschmähte Popstarvermarktung von Klassiksolisten stattfindet. Das ist großartig. Sonst könnte der Laden dichtmachen. Eine Anna Netrebko tut dem gesamten Klassikgeschäft sicher gut.“
Einen Monat später erfahren wir bei der 14. Echo-Klassik-Preisverleihung in München, was „Popstarvermarktung von Klassiksolisten“ im Klartext heißt.
Den Echo-Klassik in der Kategorie „Lied-einspielung des Jahres“ erhielt nicht Anna Netrebko, sondern die Sopranistin Christine Schäfer aus den Händen ihrer Klavierbegleiterin Hélène Grimaud. Beide waren in diesem Jahr bereits gemeinsam mit Schumanns Liederzyklus „Dichterliebe“ bei den Salzburger Festspielen zu erleben. Außergewöhnlich das Repertoire der Sopranistin für diese CD-Einspielung bei Capriccio: Aribert Reimanns Mendelssohn-Lied-Transkriptionen „...oder soll es Tod bedeuten?“. Es handelt sich um acht Lieder und ein Fragment von Felix Mendelssohn Bartholdy nach Gedichten von Heinrich Heine für Sopran und Streichquartett bearbeitet und verbunden mit sechs Intermezzi von Aribert Reimann.
Doch die Freude über diesen Erfolg des Zeitgenössischen beim Echo-Klassik wich schnell der Ernüchterung: Häppchen-Zeitgenössisches war angesagt. Fauxpas Nummer eins: Komponist Aribert Reimann war nicht zur Verleihung eingeladen worden. Vielleicht sogar ein Glücksfall, denn – und das war Fauxpas Nummer zwei – bei der Fernsehübertragung der Lied-Transkription von Mendelssohns „Auf Flügeln des Gesangs“ fehlte gleich das zugehörige ReimannVorspiel. Ob das den Komponisten gefreut hätte? Werktreue und Klassik-Echo sind scheinbar nicht kompatibel. Sollen wir doch froh sein, dass Neue Musik bei einem Event, den 2,15 Millionen Zuseher an ihren Fernsehapparaten verfolgen, wenigstens in Häppchen gespielt wird? Erinnern wir uns wieder an den Musikwissenschaftler mit der postmodernen Haartolle: „Sonst könnte der Laden dichtmachen.“
An dieser Stelle des Nachschlags bietet sich eine günstige Gelegenheit, den Deutschen Musikrat wieder einmal ins Spiel zu bringen. Der widmete am 19. und 20. Oktober seine Mitgliederversammlung in Berlin dem Star unter den Tagungsthemen, der Kulturwirtschaft.
Im Berliner Abgeordnetenhaus sprach Präsidiumsmitglied Dieter Gorny vor dem Musikratsplenum von globalökonomischen Konfrontationen: neue Wirtschaftsmächte erobern den Weltmarkt – den klassischen Industrienationen bleibt nur noch ein letzter Rohstoff – es ist der wertvollste: die Kreativität. Gorny mahnte: „Hier – im Musikrat – sind die Kreativen.“ Sinngemäß: Der Musikrat müsse sich jetzt melden bei der Politik, sonst könne man den Laden dichtmachen.
Dass Kunst und Musik möglicherweise Dinge sind, die sich auch außerhalb messbarer CD- und Download-Umsätze bewegen, nicht quantifizierbar in GEMA- oder GVL-Ausschüttungen, das spielte an diesem Wochenende keine Rolle. Ein Antrag, die Mitgliederversammlung zukünftig auf ein anderes Herbstwochenende zu verschieben, damit man nächstes Jahr auch die Vertreter der Neuen Musik zu Gast hat und zudem nach Donaueschingen fahren kann, wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt. Man könne die Mitgliederversammlung nicht wegen eines Festivals verschieben.
Neue Musik innerhalb der Kulturwirtschaft – muss man den Laden wirklich dichtmachen? Dazu noch ein Zitat aus einem Interview dieser Zeitung mit Wolfgang Rihm (Seite 8) über das Förderprogramm „Konzerte des Deutschen Musikrates“. Auf die Frage welche Rolle die allgemeine ökonomische Ausgangssituation für das Entstehen interessanter Initiativen im Konzertleben spiele, antwortet er: „Je weniger Geld es gibt, umso weniger haben sowieso schon mutlose Veranstalter Mut, ihre Mittelwege zu verlassen. Die Mutigen aber sind ohnehin stets an neuen Wegen interessiert. Was ich sagen will: Ökonomie hin oder her, es sind immer Individuen, die etwas ermöglichen oder eben nicht.“
Und Menschen sind es auch, die Kulturpolitik machen. In Deutschland treffen Positionen eines neoliberalen Ökonomismus auf eine kulturpolitische Auffassung, die Kunst und Kultur als wertsetzende und sinnvermittelnde Sphäre jenseits des Markthandelns versteht. Angesichts dynamischer Entwicklungen der Kulturwirtschaft, veränderten Konsumentenverhaltens und fortwährender Finanzierungsschwierigkeiten der öffentlichen Hand muss Kulturpolitik nach neuen Antworten und Strategien für ihre eigene Zukunft suchen. Klingt doch vernünftiger als „den Laden dichtmachen“. Oder?