Unsere Orchester- und Musikkultur in Deutschland ist einzigartig in der Welt. Und zwar im Positiven. Wir haben (noch) zahlreiche Orchester und viele Bühnen, verteilt über das Land. Die Landschaft dünnt sich etwas aus über die Jahre. Gleichzeitig hört das Gerede und Gejammere über die sogenannte „Krise der Klassik“ nicht auf. Der Betrieb läuft irgendwie unrund, könnte man meinen. Und zwar sehr. Nach der Ausdünnung der Orchester droht die Ausdünnung der Zuhörerschaften. Mit allen Mitteln der Kunst will man neue, andere oder überhaupt Zuhörer. Es entstehen dadurch an allen Ecken und Ende neue Baustellen. Nicht nur Sprichwörtliche: Konzertsäle, die angeblich nichts mehr taugen wie in München; Opernhäuser, die sich fast nicht mehr restaurieren lassen wie in Berlin und jetzt auch noch Orchester, die eventuell künstlerisch leitungslos vor sich hintreiben.
Über all das wird immer mehr und immer häufiger gesprochen. Das ist ein bisschen wie Opernball. Hauptsache, man ist im Gespräch. Übrigens ein Gespräch, das durch die neuen Medien und sozialen Netzwerke immer mehr Öffentlichkeit für sich in Anspruch nimmt. Das ist eigentlich sogar gut. Das Gemauschel hinter verschlossenen Türen findet nicht mehr so viel Anklang. Die öffentliche Relevanz scheint zu steigen.
Die Wahl des Simon-Rattle-Nachfolgers gleicht einer marketingdurchsättigten PR-Aktion. Wie beim Eurovision Song Contest werden die Kandidaten beäugt, es wird gelästert und gelobt. Natürlich ist die öffentliche Mitdiskussion völlig sinnlos, denn entscheiden tut hier das Orchester und niemand sonst. Im Geheimen. Das öffentliche Geheimnis ist so ein neues Phänomen, ähnlich wie vor Wahlabenden die Konstruktion von Schattenkabinetten und Koalitionen. Man weiß alles und weiß doch nichts. Gerüchte poppen hoch. Meinungstorpedos machen die Runde.
Wenn man erst einmal genug zu wenig weiß, blüht die Fantasie. Und nimmt Einfluss auf die Wirklichkeit. Wie bei den Berliner Philharmonikern. Dort schien sich alles darauf zuzuspitzen: Thielemann oder Nelsons. Dabei ist es eigentlich egal. Denn den Maestro gibt es nur noch in der Ansage, für die Zeremonie. Die Liste der sogenannten Top-Dirigenten ist lang und keiner sticht mehr so richtig heraus. Der eine macht lieber das, der andere jenes. Auch das ist, wie die Politik heute, einigermaßen beliebig: CDU oder SPD – am Ende sind sie sich so ähnlich, dass sie zusamme regieren können. Extremisten jedenfalls haben keine Chance.
Das war in der Zeit der Maestri vordem anders: Sergiu Celibidache, Wilhelm Furtwängler, Carlos Kleiber, Georg Solti, Arturo Toscanini, Fritz Busch, Bruno Walter, selbst Leonard Bernstein. Pultstars waren sie alle. Heute ist mehr Austauschbarkeit normal, wie ja auch Dirigenten wie Gergiev zeigen, sie sind irgendwie überall zuhause und daher grundsätzlich bindungslos.
Daher kann man heute aber auch niemanden mehr einfach so durchsetzen. Wechseln wir von der neuen Bundeshauptstadt in die alte: Bonn. Niemand weiß so recht, welcher Teufel wen geritten hat, aber die Wahl des neuen Chefdirigenten des Bonner Beethoven-Orchesters brachte zwei Ergebnisse. Ein offizielles, das eine Findungskommission vorlegte und ein inoffizielles, welches die Orchestermitglieder vorlegten. Leider nicht identisch. Hier Marc Piollet, da Jun Märkl. Wer da für wen optiert, ist eigentlich egal. Man kann weder der einen noch der anderen Gruppe unterstellen, sie habe falsch gewählt. Und nur weil 98 Prozent der Orchestermitglieder den einen vorziehen, ist ja nicht gesagt, dass sie den anderen zu 98 Prozent ablehnen. Also mal ein bisschen Schärfe aus dem Gefecht nehmen. Doch das nur nebenbei.
Offensichtlich ist vielmehr, dass im Prinzip die Dirigenten doch alle auf ihrem künstlerischen Niveau austauschbar sind. Das sollte man mal als positiv sehen. Da gilt eher die Methode „All you can hear“, die musikalische Rundumversorgung. Diese großen Orchester sind musikalisch tatsächlich zu ästhetischen Supermärkten in den Wogen der Gesamtkultur umgebaut. Zuletzt eben das noch einigermaßen spezielle Orchester des SWR per Fusion kommensurabel gemacht. Für die Spezialisten bleiben sowieso die Nischen wie bei den Barockorchestern, den Ensembles für Neue Musik. Da wären die Maestri der alten Art ohnehin überfordert. Thielemann vor dem Klangforum Wien? Undenkbar. Nelsons vor dem Freiburger Barockorchester? Wohl nicht anhörbar.
Eigentlich geht es doch hier nur noch um die Reste. Nämlich die Konstruktion eines Superstars, um aus der schönen Soße der Orchesterkonkurrenz herauszustechen und zwar in einem Segment, das hauptsächlich von Konventionen lebt, so gesehen – nehmen wir die Berliner Philharmoniker – jemand wie Christian Thielemann. Aber der wirkt nach außen eben auch abschreckend und polarisierend.
Ein Schrecken für die Wirkung nach außen und nach innen. Da braucht man nur seiner Spur durch die Orchesterleitungen folgen. Das Problem für die Berliner Philharmoniker wird daher immer unlösbarer und kulminiert in der Existenzfrage: Wie kann ich das konventionellste Supermarktorchester werden oder bleiben. Qualität kann eine Bürde sein.