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Meinungsstarke, vereinigt Euch!

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Der moderne Journalismus fordert von denen, die ihn erfolgreich betreiben wollen, vor allem eins: Meinungsstärke. Den meinungsstarken Journalisten erkennt man daran, dass er von der Sache, über die er so entschieden urteilt, keine Ahnung haben muss. Deshalb können seine Sätze knapp und klar und unmissverständlich daherkommen. Der Meinungsstarke ist nicht in Gefahr, sich in Hypotaxen zu verheddern – wie all die, die partout das Für und Wider erwägen und auch noch darstellen wollen. Der Meinungsstarke, so vermuten zumindest die Medien-Manager, ist der Freund des Lesers, dem er ähnelt; in seinen Bedürfnissen genauso wie im Stand des Wissens. Der Meinungsstarke ist die engagierte, mit jedem Mainstream mitschwimmende Nachfolge-Version seines zynischen Vorgängers. Dessen Devise lautete: Nur nicht zu genau recherchieren, sonst geht die ganze schöne Geschichte kaputt.

Worum geht es, werden jetzt ungeduldig all die fragen, die alles rasch auf den Punkt gebracht wissen wollen. Schon ist man in der Bredouille. Denn man weiß gar nicht so recht, was man antworten soll. Meinungsstärke ist längst eine Seuche, schlimmer als Rinderwahnsinn und Vogelgrippe zusammen. Sie zerstört den Verstand und das Immunsystem, also die Widerstandskraft gegen Unsinn und Zumutungen aller Art. Und sie ist so allgegenwärtig und allmächtig, dass man sie schon gar nicht mehr wahrzunehmen scheint.

Nur ein paar der jüngeren Beispiele: Dani Levys „Hitler-Film“ „Mein Führer“ stellt eine Herausforderung dar, der kein Meinungsstarker widerstehen kann. Er muss Partei ergreifen und für klare Verhältnisse sorgen – und zwar („Wehret den Anfängen!“), bevor überhaupt etwas passiert ist. Also: Bevor er sich mit Anlass und Objekt seiner Begeisterung oder Empörung näher beschäftigen konnte. Der meinungsstarke Journalist betrachtet die Tatsache, dass er einen Film gar nicht gesehen hat, nicht als Hindernis für ein definitives, also abschließendes Urteil. Längst sind die Zeiten passé, als Provinzzeitungen Geschichten erst aufgriffen, nachdem sie in den Metropolen-Blättern schon zu Tode diskutiert worden waren. Nichts fürchtet der moderne Journalist so wie das Verfallsdatum seiner Worte. Deshalb wird der Artikel gerne „vorgezogen“. Was dem Baye­rischen Rundfunk nur aus Versehen passierte, dass er nämlich den Nachruf auf Edmund Stoiber schon sendete, als dieser den Rücktritt noch scheute wie der Teufel das Weihwasser, ist bei „weicheren“ Themen, denen die harten Fakten keine Grenzen zu setzen scheinen, längst gängige Praxis: Eine ganze Seite über „Mein Führer!“, produziert von Leuten, deren Urteil nur aus Vor-Urteilen besteht und aus einer Art von intuitiver Marktforschung, die jedem Journalisten Hinweise gibt, mit welcher Position er sich im Kampf aller gegen alle einen kleinen Konkurrenz-Vorteil verschaffen kann. Dazu gehört, dass man Experten und Betroffene zu Wort kommen lässt. Bei einem umstrittenen Christus-Film zum Beispiel Bischöfe und Gläubige, bei einem Hitler-Film Vertreter der jüdischen Gemeinde und Holocaust-Überlebende. Dass Berufe, Konfessionen und Passionen dieser Art wenig helfen, wenn die Befragten sich mit Kino nicht auskennen und noch nicht einmal den Film gesehen haben, gilt bei Meinungsstarken und Engagierten nicht als Einwand, sondern bestenfalls als frivole Bemerkung.

Ein bisschen ähnelt der moderne Journalismus der gerade akuten Lehrer-Ausbildung, bei der Fachwissen als entbehrlich beschimpft wird, weil es ja darauf ankommt, den Kindern „etwas“ zu vermitteln, also um Didaktik ohne weiteres Vorwissen. Oder dem modernen Musikunterricht, bei dem das Beherrschen des Instruments als frustrierende Barriere für kreative Erkundungen aller Art erscheint. Der moderne Journalist ist, so gesehen, nichts anderes als die seriös-staatstragende Variante von Orff-Instrumentarium und „Improvisation“. Ein Spezialist im Vermitteln von Emotionen und Überzeugungen, ohne dass es weiter wichtig wäre, was man gerade fühlt oder meint. Was zählt: Man sollte flexibel sein und mobil, wenn man weiterkommen will. Und selbst Frechheiten sollten so formuliert sein, dass sie zur Not auch als Bewerbungsschreiben durchgehen.

P.S.: Eben geht durch die Presse, dass sich der mittlerweile weitgehend in Ungnade gefallene englische Premier Tony Blair meinungsstark gegen die neueste „Big Brother“-Staffel engagiert, die auf dem Privatsender-Kanal „Channel 4“ ausgestrahlt wird. Er habe die Sendung zwar nicht gesehen, wende sich aber gegen Rassismus in jeder Form, erklärte Blair, wenn man der FAZ Glauben schenken darf (und warum sollte man nicht). Schließlich ergänzte die FAZ die Meldung mit dem Hinweis, die indische „Regierung werde angemessene Schritte ergreifen“, wenn auch mit der in Europa längst nicht mehr üblichen Einschränkung „sobald sie alle Details kenne“. Worum geht es bei dieser Staatsaffäre? Ein mitspielendes britisches Starlet kritisierte, wie die „Süddeutsche“ zu berichten weiß, „Bollywood-Star Shilpa Shetty“. Und wie? Mit der Behauptung, „Inder seien so dünn, weil sie ihr Essen nicht gut kochten“. War das früher in Celebrity- und Feminismus-Kreisen nicht eher ein Kompliment: schlank sein und erniedrigende Hausarbeit torpedieren? Warum intervenieren die indische Regierung und Tony Blair? Und noch dazu so meinungsstark und heftig? Bei Blair immerhin hat das Tradition. Schließlich erkannte er schon vor zehn Jahren das allgemeine Erregungs- und Hysteriepotential von Lady Dis Unfalltod, zitierte ungeniert aus einem Paulusbrief, in dem es um die Liebe geht, promovierte die bulimische Zicke Di postum zur Prinzessin des Volkes und wurde dadurch selbst für Jahre zum quotenstarken Premier des Volkes. Regisseur Stephen Frears stellt jetzt im Dekadenabstand die Verhältnisse richtig: Die vielgeschmähte Queen war die Gute und Helen Mirren, darin ist sich die internationale Presse mit dem gemeinen Kinobesucher einig, bekam zu Recht den Golden Globe als beste Darstellerin.

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