Mit der Schlagzeile „Ausbildungsplätze auch für Analphabeten?“ verhalf im April „Die Welt“ der Argumentation der Arbeitgeber im Lehrstellenstreit zu publizistischer Breitenwirkung. Der Streit erreichte damit eine neue Stufe, denn die Taktik, eine verschwindende Minderheit ins Zentrum des Ausbildungsgeschacheres zu rücken, suggerierte: Die Betroffenen sind selbst schuld.
Man kann über Sinn und Praktikabilität der „Ausbildungsplatzabgabe“ durchaus geteilter Meinung sein. Aber was an dieser Formulierung so anstößig wirkt, ist die Tatsache, dass die Schwächsten an den Pranger gestellt werden, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. Denn das Problem liegt beim Bildungssystem als Ganzem und nicht bei einzelnen Jugendlichen. Die Taktik von Politik und Wirtschaft, die Verantwortung für eine funktionierende Ausbildung wie einen Schwarzen Peter hin und her zu schieben und die jeweils andere Seite „in die Pflicht zu nehmen“, ist charakteristisch für die zunehmende Unfähigkeit der Gesellschaft, in grundlegenden Fragen zu einem Minimalkonsens zu kommen.
Die Lehrstellendiskussion ist nur ein, wenn auch besonders auffälliges, Symptom für die Ideenlosigkeit, mit der heute mit Bildung verfahren wird. Ähnlich läuft’s bekanntlich in der Musikausbildung, wobei hier erschwerend hinzu kommt, dass das Fach zunehmend als überflüssig betrachtet wird. Niemand malt hier wie im Bereich der Wirtschaft die Gefahr an die Wand, dass im Falle eines Ausbildungsfiaskos in zwanzig Jahren einige Millionen Fachkräfte fehlen werden.
Schon heute scheinen viele zu glauben, musikalische Fachkräfte seien bis dahin sowieso überflüssig. Für sie liegt die Lösung des Problems vermutlich in einem grundgesetzlich verbrieften Anspruch auf pausenlose Gratisbeschallung, finanziert von hochmögenden Sponsoren. Im Pausenfoyer der Philharmonie wäre dann auf einem Bildschirm zu lesen: „Dieses akustische Ambiente wird Ihnen präsentiert vom Wellness Department der Firma Bertelsmann.“
Der durch die Pisa-Studie dokumentierte schleichende Niedergang der Schulen hat bereits vor vielen Jahren begonnen. Das gilt auch für den Musikunterricht. Wenn der Walkman das eigene Musikmachen ersetzt, steht natürlich auch der engagierteste Musiklehrer auf verlorenem Posten. Doch die Phase der verschärften Dekadenz hat erst vor wenigen Jahren eingesetzt, als Schröders Hausphilosoph Nida-Rümelin – wer erinnert sich noch an den glücklosen Politsurfer der bunten Boomjahre um 2000? – sozusagen regierungsamtlich die Meinung kundtat, man sollte an den Schulen nun Popmusik als Unterrichtsfach einrichten. Alle, denen eine Mozartarie schon immer ein Greuel gewesen ist, sind ihm noch heute dankbar für diesen Reformvorschlag.
Die Einsicht in die Macht des Faktischen – die Jugend will Pop! – und den damit verbundenen Reformbedarf ist inzwischen auch zum Deutschen Musikrat durchgesickert. Seit seiner wundersamen Errettung aus der selbstverschuldeten Beinahe-Pleite leidet er wohl unter einer Bringschuld und hat unter den gefälligen Blicken der Unterhaltungsindustrie begonnen, sachte das Ruder herum zu legen. Populismus? Mitnichten. In einer demokratischen Gesellschaft hat man sich schließlich den Mehrheitsverhältnissen zu fügen. Und die sprechen nun mal leider, leider nicht zu Gunsten einer Mozartarie. Wir bitten um Ihr Verständnis. Ihr Leitungsteam. – Und ganz demokratisch, weil die E-Komponisten zu blöd waren, zur Mitgliederversammlung zu gehen, wird gegenwärtig ja auch die GEMA auf die neuen ästhetischen Mehrheitsverhältnisse umgestellt.
Unten an der Basis, an der sich bekanntlich in einer Demokratie alles Wichtige entscheidet, werden unterdessen weitere Weichen gestellt. Von oben. Zur Verbesserung der Musikausbildung wird an den Grund- und Hauptschulen in Baden-Württemberg laut Bildungsplan 2004/05 ein neues Fach eingerichtet: MSG. Das ist die Abkürzung für „Musik/Sport/Gestaltung“ und bedeutet, dass aus Gründen einer effizienteren Lehrplangestaltung die Fächer Musik, Sport und Zeichnen zusammengelegt werden zu einer Art musischen Gesamtveranstaltung, die der ganzheitlichen Ertüchtigung der Schüler dienen soll.
Wenn man etwa Deutsch, Geschichte und Gesellschaftskunde oder Mathematik und Chemie zusammenlegte, würde die Absurdität dieser kostensparenden Verschlankungsmaßnahme vermutlich schnell erkannt. Beim Schulfach Musik ist das offenbar anders. Das Ganze sieht nach Resteverwertung aus – ein Fächereintopf, aus dem vielleicht so etwas wie Rock Dance oder rhythmisches Graffitti-Malen mit dem Knopf im Ohr resultieren kann, aber sicher keine differenzierte Auseinandersetzung mit Musik. Der Umgang mit musikalischer Industrieware stünde vermutlich im Vordergrund.
Rechnet diese Art von Bildungspolitik vielleicht damit, dass eine Vermittlung spezifischer musikalischer Kenntnisse an Grund- und Hauptschulen ohnehin aussichtslos ist, und dass es hier nur darum gehen kann, den angehenden Konsumenten von kultureller Massenware auf ein angemessenes Freizeitverhalten vorzubereiten? Abgesehen davon, dass dieser Typus von Kulturkonsument für den Konzertsaal dann endgültig verloren wäre, würde auch die Basis für die musikalische Spitzenförderung gefährlich verschmälert. Die Zahl der Orchestermusiker und damit der Orchester würde sich auf eine gleichsam natürliche Weise verringern. Und die Zeitung „Die Welt“ fände dann wieder einmal Gelegenheit zu einer besorgten Schlagzeile: „Orchesterstellen auch für Nichtnotenleser?“