Genauso wie viele andere Künste haben die handwerklichen Aspekte des Komponierens in den letzten Jahrzehnten eine enorme Beschleunigung durch die digitale Revolution erfahren. Hierbei spielen natürlich die inzwischen schon von quasi 99 Prozent aller Komponisten verwendeten Notenprogramme eine große Rolle.
Diese haben nicht nur die früher wesentlich aufwändigere Arbeit des simplen Notenschreibens revolutioniert, sie ermöglichen nun auch Dinge, von denen früher Komponisten nur träumen konnten: Transpositionen und Permutationen auf Knopfdruck, Aufnahmen von Improvisationen, Copy und Paste ohne Ende und das Umwandeln von Handschriften sind nur einige der Möglichkeiten, die der jungen Komponistin von heute zur Verfügung stehen. Hinzu kommen die ebenfalls immer mehr Verwendung findenden Assistenzprogramme wie zum Beispiel Max/MSP, die den Komponisten das Erfinden von Tönen zunehmend abnehmen (warum eigentlich, wenn dies doch der Aspekt des Komponierens ist, der am meisten Spaß macht?).
Doch mit jedem Gewinn von Zeit droht auch wieder Verlust von Zeit. So ist es heute branchenüblich, dass junge Komponisten druckfertige Partituren und Orchesterstimmen abliefern, was bedeutet, dass eine Beethoven’sche „Kladde“ nicht mehr ausreicht. Es gibt den Beruf des „Lektors“ quasi nicht mehr, daher ist man als Komponist stets für die eigenen Fehler verantwortlich und kann sich nicht wie die Komponisten einst auf Assistenten und Gehilfen verlassen. All das frisst viel von der Zeit auf, die man mit der neuen Sibelius-Version gerade gewonnen geglaubt hatte.
Dennoch ist insgesamt vor allem bei den jungen Studenten eine zunehmende Ungeduld, ja Schlampigkeit zu spüren, wenn es um das Herstellen von Partituren geht. Da man gleich alles ins Notationsprogramm tippt und das alles auch gleich per MIDI abgespielt werden kann, hat sich eine gewisse Nachlässigkeit mit den früher wesentlichen Aspekten einer „lesbaren“ Partiturhandschrift eingeschlichen. Genauso wie die meisten schnell geschriebenen Internetkommentare voller bizarrer Schreibfehler sind (vor allem, wenn es sich um Hasskommentare handelt, weil sich da anscheinend bestimmte Regionen im Gehirn automatisch abschalten), bekomme ich inzwischen im Unterricht Partituren voller sinnloser Flüchtigkeitsfehler vorgelegt.
Das fängt bei der enharmonischen Notation an (über die ich schon schrieb), geht aber weiter mit meistens grundsätzlich fehlender Dynamik und Phrasierung. Wenn ich darauf hinweise, heißt es „das werde ich noch ausarbeiten“, weise ich nicht darauf hin, bleibt es meistens so skizzenhaft, Kaskaden voller Töne ohne Legatobögen, ohne Ausdruck, mit haufenweise halbgaren und nicht wirklich durchgehörten Kontrapunkten. Könnte es sein, dass man nun ähnlich wie in der digitalen Welt ein Werk anscheinend nur noch als ewige „Work in Progress“ begreift und Partituren wie Computerprogramme als stets unperfekte Zwischenstände bis zur nächsten Version X.0 empfindet? Und es daher mit den Details nicht mehr so genau nimmt?
Ich gebe zu, dass mich das deprimiert. Wirklich gute Kunst will Sorgfalt. Eher kann ich damit umgehen, dass mir die Studenten Kladdeskizzen zeigen und mir diese erklären (das kann oft spannender sein, als das fertige Resultat) – mir wäre das lieber als die zu schludrigen Partituren! Auch müssen Partituren im Entstehen natürlich noch nicht perfekt editiert sein, da darf schon Mal ein Dynamikzeichen mit irgendwas kollidieren. Aber eine aufgeschriebene Partiturseite sollte alles enthalten, was in eine Partiturseite gehört, und dazu gehört eben auch ein vorangegangener Arbeitsprozess, der die Sachen wirklich auf den Punkt gebracht hat und nicht in halbfertigem Zustand belässt. Sorgfalt ist ja kein unnötiger Drill – in der Entschleunigung und liebevollen Begutachtung entstehen ja genau die künstlerischen Einsichten, die ein Werk wirklich zur Perfektion bringen. Oder anders gesagt: Das Bessere ist der Feind des ganz gut Gehudelten. Insofern sollte ich vielleicht Preise für die Entschleunigung ausloben: ECTS-Sonderpunkte, wenn man die Partitur langsam und sorgfältig schreibt, anstatt alles husch husch mit Noten zu füllen. Schauen wir Mal, ob es hilft.