Da komme ich nicht mehr mit: Musik, so Moritz Eggert in der letzten Ausgabe der nmz im alten Jahr, soll Teil unseres Alltags sein, egal, ob man sie „versteht“ oder nicht, man soll sie einfach „erleben“! Aber warum? Sollen wir auch unverständliches Gerede getrost über uns ergehen lassen, nur weil jemand es von sich gibt? Mir scheint, es ist Zeit, sich der Frage „Musik verstehen?“ im größeren Maßstab zuzuwenden – ob man Musik „verstehen“ kann und soll und wenn ja, warum, und wie geht das?
Musik, das steht fest, ist ein Mittel der Kommunikation, also wie Sprache, jedenfalls vergleichbar mit Sprache in vielerlei Hinsicht. Bei näherem Hinsehen zeigen sich wesentliche Übereinstimmungen ebenso wie wesentliche Unterschiede. Dem lohnt es, etwas gründlicher nachzugehen. Musik erklingt seit eh und je für Zuhörer, wird wie eine sprachliche Äußerung für sie „formuliert“, um von ihnen in irgendeiner Weise „verstanden“ zu werden – vielleicht als musikalisch originell oder als nur gewöhnlich, doch wenn die Äußerung sinnlos ist, dann wird sie nur als störendes Geräusch empfunden. Sinnlose Äußerungen von Musik ebenso wie von Sprache braucht kein Mensch.
Also im Ernst: Wie Sprache macht auch Musik den Menschen aus, sie kann als ein zu Sprache komplementäres Kommunikationssystem definiert werden, das sich wohl bereits in der frühen Menschheitsgeschichte neben Sprache entwickelt hat. In der Bibel spielt Musik vor allem in den Erzählungen des Alten Testaments eine große Rolle, nur ist uns nichts davon in Noten oder genaueren Beschreibungen übermittelt. Das gilt auch für andere Kulturen des Altertums, für uns bekannte Frühkulturen generell. Wohl deshalb wird Musik und ihre Bedeutung für den Menschen ganz allgemein von Anthropologen und Kulturhistorikern häufig unterschlagen (so auch in der jüngst auf Phoenix ausgestrahlten Dokureihe „History 360° – Geschichte der Menschheit“). Wir wissen wohl, dass Musik in früheren Zeitaltern häufig mit religiösen Zeremonien verbunden gewesen ist, sie hat aber früh auch schon der – teilweise sogar virtuosen – Unterhaltung gedient. In der griechischen Antike war sie vor allem mit Dichtung und Tanz verbunden, auch zur Begleitung von Bühnenwerken erdacht. Und zu den Wissenschaften im klassischen Altertum zählte Musiklehre auch schon.
In unserem Kulturkreis wurde Musik seit der Renaissance im 16. Jahrhundert allmählich zu einer Kunstdisziplin entwickelt, in den folgenden Epochen – Barock-Klassik-Romantik bis in die Moderne – ist es durch die Notation kumulativ zu einem musikalischen Reichtum gekommen, was das Niveau und zugleich die Vielfalt der Gattungen und Besetzungen betrifft, wie es ihn in der Geschichte der Menschheit zuvor sicher nie gegeben hat. Eigentlich kann heute jeder Mensch über diesen unermesslichen Reichtum verfügen, da die Technik die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass Aufführungen jeder Art an jeden Ort der Welt live übermittelt oder gespeichert und jederzeit abgerufen werden können. Diese Option hatten unsere Vorfahren nicht.
Verfügbar ist heute also eine unendliche und stetig weiter wachsende Menge von Musik. Allerdings: wie Menschen Musik empfinden oder verstehen, ob und wann sie überhaupt ein Musikbedürfnis haben, hängt nicht nur von der aktuellen Verfügbarkeit der Musik ab, sondern ebenfalls vom subjektiven Hörvermögen, nämlich von der musikalischen Schulung und Erfahrung jedes Einzelnen. Und da haben wir wieder eine Parallelität zu sprachlich-begrifflichen Äußerungen oder Dokumenten. Bereits länger zurückliegende Forschungen haben gezeigt, dass die musikalische Hör- und Verständnisfähigkeit wesentlich in frühen Jahren, also in der Kindheit geprägt wird, dass es also auf das junge Menschen erreichende Angebot von Musik ankommt. Und wiederum analog zur sprachlichen Entwicklung und Schulung ist es entscheidend, Kinder möglichst frühzeitig progressiv „anzufüttern“, nämlich auf Vielfalt und Innovation, sie für die Erweiterung und Differenzierung ihres Spektrums zu gewinnen, anstatt sie an ein bescheidenes Repertoire von Begriffen beziehungsweise Klangelementen zu gewöhnen; es kommt also darauf an, die Kids anstatt zur Genügsamkeit zur Aufgeschlossenheit für Neues, zur Erweiterung des Verständnisvermögens anzuleiten und sie auf diese Weise zu motivieren.
Ohne eine geeignete Heranführung an die heute pauschal so genannte „Klassische Musik“ werden Kinder und Jugendliche kaum für hochkarätige Meisterwerke von Bach, Mozart, Mahler oder Strawinsky zu begeistern sein, werden sie kaum von der Meisterschaft einer Brahms-Symphonie, vom musikalischen Humor Haydns oder von den Klangfarben bei Debussy berührt, werden sie auch nicht von der Virtuosität in Mendelssohns Streichoktett oder der Klangmalerei in Ravels Orchesterfassung der „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky hingerissen.
Aber laut Moritz Eggert ist das alles ja nur „Musik der Vergangenheit“, die zwar „weiterhin erklingen muss“, aber eben nur „als Chronik der Gefühle und Leidenschaften vergangener Epochen“. Pardon, aber da hört der Spaß auf, denn wäre dem so, dann wären Beethoven, Schubert, Wagner, Bartók und alle die anderen allein von historischem Interesse – „Leute, hört mal, was die Alten schön fanden!“ Dann könnten wir auch darauf verzichten und uns aktuellen Problemen zuwenden.
Ja, nun muss es doch noch einmal gesagt werden: Große Kunst, nicht nur musikalische, zeichnet sich dadurch aus, dass sie zeitlos ist: Und jedes musikalische Meisterwerk wird schon deshalb als aktuell empfunden, weil es in sich originell ist, innovativ, anders als das, was es schon gab. Und weil wir diese Originalität, diese Besonderheit wahrnehmen können, wenn wir ein solches Werk hören – vorausgesetzt, wir haben gelernt, Musik so zu hören und mitzudenken.
Das Problem: Die Heranführung an die Künste, gerade an die Musik, wird im Kulturbetrieb und im Bildungswesen nicht erst heute sträflich vernachlässigt. Zwar haben die Angebote von Kinder-, Jugend- und Familienkonzerten durch die Orchester und Opernhäuser in den letzten Jahren zugenommen, doch wären Quantität wie Qualität derartiger Angebote – auch in den öffentlich-rechtlichen Medien mit Bildungsauftrag! – noch erheblich steigerungsfähig. Denn es muss klar sein: Musikalische Reichtümer der Vergangenheit wie der Gegenwart bedürfen unbedingt der Pflege durch Nutzung, das heißt der klanglichen Präsentation. Anderenfalls wäre der unschätzbare Reichtum an Musik auf die Dauer nicht mehr nachgefragt und damit dem Schwund durch Vergessen preisgegeben. Und das wollen wir uns doch lieber nicht vorstellen.