In einer Zeit von mannigfaltigen Verfügbarkeiten fühlen wir uns unermesslich reich – und dabei geht es nicht um finanziellen Reichtum. Wir haben alles, wir haben sehr vieles sogar im Überfluss. Was wir nicht haben, suchen und finden wir im Internet: heute bestellt – morgen geliefert! Aber gerade dieser oft gedankenlose und selbstverständliche Griff in die große Kiste des unermesslichen, zumeist kommerziellen Segens macht uns letztlich arm, lässt uns den wahren und tiefen Wert vieler Dinge vielleicht als zu selbstverständlich an- oder gar ganz übersehen.
Zuweilen huldigen wir dem Überfluss sehenden Auges. Manche Mengen konsumieren wir nur deshalb, weil wir es können, weil ein letztlich unbedeutender Irgendwer es von uns erwartet oder weil wir etwas darstellen wollen, was wir eigentlich nicht sind – ein Produkt unserer grenzenlosen Egozentrik und unserer Schneller-Höher-Weiter-Mentalität. – Immer wieder werden wir aber auch geradezu erschlagen von Phänomenen, die wir letztlich nicht selber beeinflussen können. Eine der vielleicht wunderbarsten und existenziellsten menschlichen Lebensäußerungen, die Musik, ist es, die sich mehr und mehr unserem direkten Zugriff entzieht!
Dauerbeschallung
Überall, wo wir hinkommen, dudelt Musik, die wir gar nicht hören möchten – im Büro das Radio, beim Friseur ebenso, im Kaufhaus, um uns letztlich manipulatorisch zum Kaufen anzureizen, in München gelang es mittels klassischer Musik, Junkies und Drogenhändler aus den U-Bahnhöfen zu vertreiben, in der Halberstädter Burchardi-Kirche tönt eine Orgel ohn’ Unterrlass 639 Jahre usw. Musik, oft nur als atmosphärische „Hintergrundmusik“, ist allgegenwärtig und letztlich an vielen Orten auch weitab davon, sich als künstlerisches Produkt/Kunstprodukt produzieren zu können. Durch die Dauerberieselung kann Musik in unserer Wahrnehmung zu einer Art „weißem Rauschen“ degenerieren.
Einen herausfordernden Tag verzeichnet unserer Patenplattform „Kuriose Feiertage“ für den heutigen 21. November: den „Internationalen Tag ohne Musik“. Einen ganzen Tag keine Musik – ist das vorstellbar? Kann man diese ungewohnte fast schon brutale Stille überhaupt ertragen? – In gewohnter Manier können uns die weiteren auf der Plattform für diesen Tag verzeichneten Feiertage („Tag der Lebkuchen-Plätzchen in den USA“, „UNESCO Welttag der Philosophie“ und „Welt-Hallo-Tag“) nicht weiterhelfen, um den tieferen Sinn des „Tages ohne Musik“ zu verstehen. Im weitesten Sinne hat auch der heutige „UNO Welttag des Fernsehens“ mit Dauerberieselung zu tun. Hilfreich ist der Blick nach vorn: morgen, am 22. November, ist der Gedenktag der Heiligen Cäcilia, der Schutzpatronin der Kirchenmusik und in der Wahrnehmung des Volkes auch oftmals der Schutzpatronin aller Musik. Ebenfalls morgen wird in Deutschland der bundesweite Tag der Hausmusik begangen. Wie können uns diese beiden Tage beim Verstehen des „Tages ohne Musik“ weiterhelfen?
Keine Musik!
Die Idee für den „Tag ohne Musik“, der letztlich überall (!) stattfinden sollte, geht auf den britischen Konzeptkünstler Bill Drummond zurück. Er wollte Menschen dazu bringen, sich über ihr Verhältnis zur Kunstform Musik bewusst zu werden. Welchen Wert hat ein Konzert, das man besucht? Welche „Last“ stellt Musik für jeden Einzelnen dar, die nur unterschwellig angeboten und wahrgenommen wird? Wie beeinflusst allgegenwärtige Musik das Leben und die Wahrnehmung von Menschen? Dient sie oft nicht nur der Abschottung und Betäubung? Drummond meint, dass sich durch die totale Verfügbarkeit der Musik die Beziehung zu ihr verändert habe. Alles sei seiner Meinung nach schon einmal dagewesen und Musik werde nur noch konsumiert.
Drummond starte die Aktionen rund um den „Tag ohne Musik“ im Jahr 2005 und führte sie fünf Jahre lang durch. Diese ersten Aktionen in den USA, Brasilien und Österreich sollten auf den Tag aufmerksam machen und ihn etablieren. Nach diesem Anstoß wollte er, dass die Aktionen dann eigenständig weiterlaufen sollten. So richtete er eine Website ein auf der jedermann seine Gedanken zu einer Welt ohne Musik und dem Umgang mit Musik posten konnte und kündigte den „Tag ohne Musik“ auf Plakate an. Er gewann Radiosender dafür, einen ganzen Tag keine Musik zu senden. Dafür gab es dort vielerlei Textbeiträge zum Thema Musik.
2006 stellte er in der „Denmark Street“ in London, wo es einst viele Musikverlage gegeben hatte, die 2006 aber hauptsächlich Plattenläden und Tonstudios beherbergte, ein „Road-Closed“-Schild auf. In São Paulo in Brasilien bat er 2008 Straßenmusiker einen Tag freizunehmen und über den Stellenwert nachzudenken, den die Musik in ihrem Leben habe. 2009 fanden im österreichischen Linz im Rahmen des „Tages ohne Musik“ sogar Messen ohne Orgel und Choräle statt.
Musikalisches Fasten
Exkurs: „7 Wochen Ohne“ heißt eine bundesweite Fastenaktion der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie findet seit 1998 alljährlich in der Passionszeit statt. Dabei ging es am Anfang der Aktion darum, auf bestimmte Lebens- oder Genussmittel zu verzichten. Später sah die Aktion auch andere eher immaterielle Werte vor: 7 Wochen … ohne Geiz, ohne Scheu, ohne Ausreden, ohne Lügen, ohne Pessimismus, ohne Verzagtheit, ohne Alleingänge. Ziel der Aktion ist eine bewusste Gestaltung der Passionszeit. Die Aktion lädt Menschen dazu ein, ihre Alltagsgewohnheiten zu überdenken. Durch den Verzicht auf bestimmte Dinge wird Platz für Veränderung geschaffen, Platz um neue Perspektiven zu entwickeln, Raum den Begriff der „eigenen Lebensqualität“ neu zu definieren. Natürlich – das ist Grundlage des christlichen Glaubens – wird auch der Blick auf Andere geschärft, also etwa: Konsumverzicht als Zeichen der Solidarität mit Benachteiligten. Grundeinsicht dieser Aktion ist ein „Weniger ist mehr“ – „7 Wochen OHNE“ sind auch gleichzeitig „7 Wochen MIT“. Fazit: Wo Verzicht ist, da ist auch Platz für Neues!
Eine Art musikalischen Fastens hat Drummond hier erfunden, angeregt. Etwa 30 bis 50 Tage kann ein Mensch – je nach persönlicher Konstitution – ohne Nahrung leben, ohne Wasser nur drei bis vier Tage. Wie lange kann ein Mensch eigentlich ohne Musik leben? Ohne Musik, die man bewusst anhört (eigenes Musizieren, Konzerterlebnis, bewußtes Anstellen des Radios)? Ist die ständig präsente Fahrstuhlmusik wirklich nur weißes Rauschen oder auch eine notwendige innere musikalische Befriedigung? Oder haben wir durch die oftmals kommerzielle Dauerbeschallung letztlich einen Sättigungspunkt erreicht, der uns Musik überhaupt nicht mehr wachen Geistes wahrnehmen läßt?
Den 21. November als „Tag ohne Musik“ auszurufen, hat etwas antithetisches an sich, eine Art Fasten und ein darauf folgendes Wiederaufleben. „Keine Musik“ – das kann ein großes schwarzes (akustisches) Loch sein, in das man fällt, aber auch ein Aufatmen, ein Innehalten. Arvo Pärt wurde einmal gefragt, was denn das Wichtigste an seiner Musik sei – „die Pausen“ war seine Antwort. Stille kann ein Entspannungsmoment sein. Sie kann aber auch Anspannung sein – die Frage: wie geht es gleich weiter, geht es überhaupt weiter? Kommt die Musik zurück? So kann man dann den 22. November sehen: ja, es geht musikalisch weiter, in den Häusern wird wieder (bewusst und gewollt!) musiziert. Über allem schwebt dann wieder die Heilige Cäcilia, die sich als Schutzpatronin für ein Weiterbestehen des Lebenselexiers Musik verbürgt. Und vielleicht ist die Musik ja nach einem Tag Pause ganz anders, ganz neu.
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