Neulich hat der Musikjournalist Axel Brüggemann im Internetmagazin crescendo.de ein feuriges Plädoyer für die Präsenz der klassischen Musik in Fernsehen und Internet veröffentlicht und sich dabei auf seine Eindrücke von der Avant Première, dem jährlichen Treffen der Musikfilmproduzenten in Berlin, abgestützt. Der Artikel ist in Facebook, wo er verlinkt wurde, bei einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen auf harsche Ablehnung gestoßen.
Sie bezog sich jedoch vor allem auf irgendwelche Interessenverbindungen des Autors, und damit geriet die Problematik selbst aus dem Blickfeld: die Frage nach Sinn und Nutzen von Musik in den audiovisuellen Medien. Sie wird zunehmend virulent, denn die Klassikfilmproduktion boomt. Eine qualifizierte Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen wäre nötig. Adornos Meinung, Musik im Fernsehen sei Brimborium, ist Schnee von gestern.
Was auch immer man dem Autor entgegenhalten kann, in seiner Grundeinschätzung der audiovisuellen Medien hat er jedenfalls Recht. Sie sind das adäquate Mittel zur Popularisierung von Klassik. Das mag in manchen Ohren wie ein Sakrileg klingen, erinnert es doch an das verruchte Schlagwort des Populismus. Doch wer will etwas dagegen haben, dass ein breiteres Publikum mit Klassik in Berührung kommt? Erstens ist das einer jeden aufklärerischen Erziehung immanentes Postulat, und zweitens sind solche Initiativen absolut notwendig, will man der klassischen Musik im Medienzeitalter die dringend nötige gesellschaftliche Legitimation erhalten. Ohne einen weiten gesellschaftlichen Resonanzraum können jene Formen von Kultur, die sich an ein informiertes, man darf auch sagen: gebildetes Pub-likum richten, auf Dauer heute nicht mehr existieren. Die sozialen Schranken sind auch kulturell durchlässig geworden, und das gilt es zu respektieren und zu nutzen.
Was die Rolle der Medien im einzelnen angeht, klingt bei Brüggemann allerdings einiges zu pauschal. Zum Beispiel schreibt er, „dass es das Fernsehen ist, das derzeit das größte und ernsthafteste Interesse daran hat, Musik neu, spannend und innovativ zu erzählen“. Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Kreativ ist – von Ausnahmen abgesehen – nicht „das Fernsehen“, sondern kreativ sind die freien Produzenten und Regisseure. Die Anstalten sind zwar noch immer wichtige Partner bei der Projektfinanzierung, aber gerade bei einem Branchentreff wie der Avant Première zeigt sich, wie eng der Markt geworden ist. Für die vielen spannenden Produktionen gibt es immer weniger Abnehmer auf der Senderseite, und das liegt nicht an den meist sehr engagierten Redaktionen, sondern an der Programmpolitik, die die Schwerpunkte anders setzt. Anspruchsvolle Musikproduktionen, wenn sie überhaupt noch geduldet sind, werden in Spartenkanäle wie Arte und 3sat abgeschoben. Es ist beschämend, dass NHK Tokio sich mehr für die europäische Klassik interessiert als mancher öffentlich-rechtliche Sender hierzulande.
Die Folge: Zur Zeit gibt es eine klare Tendenz weg von den Öffentlich-Rechtlichen und hin zu den Privaten. Diese wittern eine Marktchance und springen ein, wenn ARD und ZDF, France Télevision, RAI et cetera die Kultur aus den Hauptprogrammen verbannen. Zum Beispiel das Medienunternehmen Sky: Es betreibt bereits in Großbritannien, Neuseeland und Italien unter der Bezeichnung Sky Arts einen Kulturkanal, und im Juli geht es damit nun auch in Deutschland und Österreich auf Sendung. „Die machen“, sagt der Musikfilmproduzent Reiner Moritz, „auf rein kommerzieller Basis genau das, was eigentlich das öffentlich-rechtliche Fernsehen tun sollte.“
Ein anderer Punkt von Brüggemann, dem widersprochen werden muss: Er prophezeit den Untergang der Musikkritik im Printbereich und ihre Wiedergeburt in den audiovisuellen Medien. Doch Äpfel lassen sich nicht mit Birnen vergleichen, und Printjournalismus lässt sich nicht gegen Video ausspielen. Beides hat seine Vor- und Nachteile und gehorcht eigenen Gesetzen. Beides ist nötig. Das Papierfeuilleton wäre der ideale Ort einer vertieften Reflexion für ein interessiertes – lesendes! – Publikum. Die audiovisuellen Medien können wiederum auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung punkten und den Gegenstand unmittelbar abbilden. Mit einer kritischen Wahrnehmung hat das zunächst nichts zu tun. Bei einem intelligenten Umgang mit den Mitteln stellt sich aber ein aufklärerischer Effekt wie von selbst ein. Und wichtig ist vor allem: Dank der Anschaulichkeit können neue Publikumsschichten erreicht werden. Im Education-Bereich gibt es dazu viele fruchtbare Ansätze, etwa in den Programmen der BBC (siehe die Beckmesser-Kolumne in der nmz 3/16).
Solche Initiativen stoßen bei der Musikkritik noch immer auf ein erstaunliches Desinteresse. Gibt es hier einen Rest vom alten E-Musik-Hochmut oder eine Angst, den privilegierten Zugang zum Klassikbetrieb mit dem „dummen Volk“ teilen zu müssen? Natürlich macht es mehr Spaß, über eine Opernpremiere zu schreiben als über die Videoaufnahme einer Opernpremiere, und natürlich ersetzt ein Video nicht das konkrete Musikerlebnis. Auch ist klar, dass höhere Klassik-Einschaltquoten noch nichts aussagen über ein vertieftes Musikverständnis, und ebenso klar ist, dass die audiovisuellen Medien den Entertainment-Aspekt der Klassik akzentuieren. Aber die Musikkritik sollte ihr Misstrauen gegenüber diesen Tendenzen ablegen, ihr kulturpolitisches Instrumentarium entsprechend schärfen und nun auch das emanzipatorische Potenzial entdecken, das den neuen Medienformaten innewohnt. Wir wollen doch die Leute, denen der Zugang zur Hochkultur nicht in die Wiege gelegt wurde, nicht einfach auf dem Schrotthaufen der billigen Medienangebote sitzen lassen. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?