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Nebel
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Ziemlich still ist man ins letzte Jahr dieses Jahrhunderts, Jahrtausends, eingetreten. Selbst Event-Dauerbrenner wie das Neujahrskonzert unter Maazel wirkten etwas introvertierter, bescheidener. Es scheint, als habe sich die Musik eine Ruhepause verordnet, ein Innehalten nach den gewaltigen Verwerfungen, die dieses Jahrhundert brachte. Politisch haben wir es ja so weit gebracht, daß die Landkarte sich wieder den Bildern vom Jahrhundertbeginn annähert - zumindest in bezug auf den Balkan oder auf die ehemalige Sowjetuniun.

Etwas zu frischwärts wohlgemut hatte auf ästhetisch-musikalischem Sektor die heftig intervenierende Postmoderne vor zehn Jahren ähnliches versucht: Ausradierung der Ansätze des 20. Jahrhunderts, Rückkehr zu Klang- und Denkformen des vormaligen Fin de Siècle. Aber auch dieser Testballon ins Zurück ist, so sieht es aus, ziemlich sang- und klanglos geplatzt. Geblieben ist eine winterliche Nebellandschaft, in der alles auf den Frühling wartet, von dem keiner so richtig weiß, wie er aussieht, woher er seine Wärme, seine strukturelle Klarheit ziehen wird. Es ist alles so anders als zu Beginn des Jahrhunderts, wo die Futuristen Maschinen und Geschwindigkeit in mannigfachen Manifesten herbeijubelten, wo die Wiener sich ins Offene der Atonalität stürzten, wo Busoni von gänzlich neuen ästhetischen Systemen und Korrelationen träumte, wo es viertel- und achteltönte, wo das Geräusch als letztendlicher Befreier aus allen musikalischen Systemen gefeiert wurde. Anbruch, so nannte sich eine Wiener Musikzeitung - und das entsprach auch dem künstlerischen Lebensgefühl. Nun ist diese Euphorie verflogen, statt Anbruch eignet sich Abbruch weit eher als Motto jetziger Befindlichkeit. Es mag schon sein, daß dieses orientierungsarme Abwarten zum Vorrecht eines zu Ende gehenden Jahrhunderts gehört, das man intuitiv mit Etappeneinschnitten gleichsetzt. Schon ab den Siebzigern beobachtete man bei den Komponisten der ersten Nachkriegsgeneration, die den Aufschwunggestus in die ersten Jahre der zweiten Jahrhunderthälfte gerettet hatten, ein merkwürdiges schöpferisches Innehalten und Unsicherheiten im Ansatz. Eine Zeitlang richtete man die Hoffnung auf Umdenkprozesse und auf anschließende neue eruptive Schaffensausbrüche. Oft aber unterblieben diese, und viele ästhetische Ergebnisse machten Konturlosigkeit spürbar, die sich in den besten Fällen, zum Beispiel bei Nono, zur offensiven Proklamation des Ungesicherten, des wandernd Suchenden wandelte. So wird also derzeit weiterkomponiert - oft durchaus profund und versiert -, ohne daß Land in Sicht ist. Man bewegt sich auf dem offenen Meer und läßt sich treiben. Besonders bei vielen der jüngeren Komponisten beobachtet man diese Haltung, und nur bei wenigen sind Ansätze auszumachen, die eine radikale Neu- oder Umorientierung verheißen. Man soll sich nicht täuschen lassen: Allzu bequem nämlich wäre es, wenn man sich das Jahrhundert zum Vorbild nimmt und vom beginnenden neuen die gleiche spontane Schwungkraft erwartet. Denn als Phönix aus der Asche traten die Neuerungen nach der letzten Jahrhundertwende keineswegs in Erscheinung. Die Auf-, An- und Ausbrüche beruhten auf der parfümlüsternen Todesschwere eines Fin de Siècle, das jedem Ton, jedem Klang in betäubendem Duft nachwitterte, das das Vergängliche selbst als höchste Lust zelebrierte. Nur diese nicht mehr tragbare Überfülle ließ wenige Jahre später alle Dämme brechen. Von solch grandioser Verwitterung, von Überschwüle der Décadence als herausfordernder Basis des Durchbruchs ist aber ebenfalls wenig zu vernehmen. Darum könnte es sein, daß es im nächsten Jahrhundert, Jahrtausend, erst einmal so weitergeht. Es käme einer um sich greifenden Agonie gleich. Um dem zu entgehen, um wirklich das Neue in neuem Bewußtsein zu feiern, scheint Profilierung vonnöten: der Mut, auf neuen Fundamenten Denksysteme zu entwickeln. Alle Kräfte wären in diese Richtung zu lenken.

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