Nietzsche stöhnte unter der Last des von anderen schon gelebten Lebens, unter dem Alpdruck der Geschichte. Sein Kampfruf, den sich dann die meisten Avantgarden des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts zu eigen machten, lautete: tabula rasa, reinen Tisch machen, damit das Neue, „Vitale“ eine Chance hat. Aber es war ein gebrochener, paradoxer Vitalismus, der sich da äußerte: der eines Décadents, der an Differenzierungsschmerzen, an Subtilitäten aller Art, an grenzenlosem Verstehen litt. Die blonde Bestie war nur die Maske des Bildungsbürgers, der vom anderen Zustand, von Rausch, Authentizität und Erlösung träumte.
Pop siedelt sich jenseits der Paradoxien und Katastrophen des letzten Jahrhunderts an. Die reflexiv gewordene Kulturindustrie weiß, dass das Uralte Revers und Steinbruch des ganz Neuen ist. Ausgerechnet in den Alten Mythen entdeckt sie das Potential einer Selbsterfindung, die nie abgeschlossen ist. Authentisch kann für sie nur sein, was ein vertrautes Muster variiert.
Niemand beherrscht dies derzeit so virtuos und suggestiv wie Judy Niemack. Sie schafft es, sogar das, was jeder kennt, in ein persönliches Bekenntnis zu verwandeln. Vielleicht hat erst „As Time Goes By“ aus „Casablanca“ den Kino-Klassiker gemacht, den nicht nur der Stadtneurotiker Woody Allen so ergriffen nachbuchstabierte, als ginge es um das eigene Leben. „Imitation of Life“ wird zum ens realissimum des Medienzeitalters, als konzentrierte sich das Dasein, das ansonsten haltlos verfließt, auf der Leinwand und in den Songs aus den Lautsprechern. Judy Niemack macht aus der überlebensgroßen Sentimentalität des Vorbilds eine intime Erkundung, die kammermusikalische Recherche einer Spätzeit, der Pathos eher peinlich ist, obwohl sie natürlich von ihm zehrt. Fast alle Songs auf „About Time“ (Sony) sind Cover-Versionen, Reprisen von Klassikern, in sparsamen Arrangements, die, ebenfalls ein Paradox, die Intensität und das Brüchige der Vorlagen eher noch steigern. Was bei Cyndi Lauper einst ein dreckiger Pop-Song war, was dann bei Miles Davis mit seinem erstickend-flirrenden späten Trompetenton zum Manifest einer immer schon von Glück und Schmerz gleichermaßen versehrten Existenz wurde, das ist jetzt bei Judy Niemack eine intime Etüde über Zeitvergehen, Sterblichkeit, das Zerbrechliche unserer Erinnerungen wie unserer Sehnsüchte. Dass die menschliche Existenz stets eine gejagte und eine jagende ist, das ist das gemeinsame Thema dieses Albums, das der Zeit gewidmet ist, der Zeit als der hervorbringenden und der vernichtenden Macht par excellence.
Es gibt Klassiker von Leonard Bernstein („Some Other Time“) und Thelonious Monk („Round Midnight“) zu hören, dazu Kompositionen von Rodgers/Hart und Bill Evans. Von Bill Evans kommt auch der Bassist Eddie Gomez. Mit von der Partie ist außerdem Lee Konitz, ein Mastermind der Cool-Jazz-Ära, Rivale und Alternative zu Charlie Parker in den frühen 50-er Jahren und selbst ein Zeitreisender, ein versetzter Mythos, der seine Geschichten auf dem Alt-Saxophon weitererzählt.
Gebrochenheiten ganz anderer Art finden sich auf Terre Thaemlitz‘ „Lovebomb“ (Mille Plateaux 117). Seine Tracks geben sich nicht mit Illusionen oder Inszenierungen zufrieden, sie schneiden tief ins Fleisch einer bösen Realität, die Mythen errichtet, weil sie unmaskiert, vor aller Augen nicht weiterbestehen könnte. Thaemlitz ist als Musiker vor allem ein Freak der Recherche und ein Dekonstruktivist; er demontiert die herrschenden Bilder und Semantiken. Er glaubt nur an das, was er selbst zerlegt und neu zusammengesetzt hat. Sein Album versammelt unerhörte Weltmusik einer bisher nicht vertrauten Art; die Töne folgen keiner üblichen Ordnung, sondern dem Rauschen des Wirklichen. Wie bei John Cage oder der musique concrète gibt es die Faszination des isolierten Geräuschs, des Lärmens der Realität, auch der Stille, der Unterbrechung des Gangs der Dinge. Thaemlitz Ästhetik ist fragmentarisch und sehr dinghaft; sie lebt auf paradoxe Weise vom Reiz des Materials, sie ist parasitär und kannibalisch, aber auf eine zornige, zerstörerische Weise. Und sie stört den Lauf der Geschichte oder zumindest der Geschichtsschreibung, indem sie Verbindungen herstellt, wo man sie vielleicht nicht vermutet; etwa zwischen dem mythischen, immer wieder neu interpretierten Song „Strange Fruit“, der nicht nur von der Lynchjustiz des weißen Mobs an drei Schwarzen, sondern vom Elend des Rassismus erzählt, und den etwa zur selben Zeit entstehenden Manifesten des Futurismus, die vom Rausch der Geschwindigkeit und der Kälte und von einem herrenmenschlichen, maschinenseligen Immoralismus künden. Das Wunderbare an Thaemlitz‘ Musik: dass sie fast verschwindet und es doch schafft, aus den vertrauten Geräuschen der Herrschaft einen betörenden Gegen-Mythos zu schaffen. Auf einem weiteren, in diesen Tagen erscheinenden Album („Replay Debussy“, Universal Classics) vermag es Terre Thaemlitz, durch wenige Schnitte und Verrückungen das „Prélude à l‘après-midi d’un faun“ so zu verfremden, dass jede falsche Vertrautheit, immer schon erfolgte Aneignung und bildungsbesitzbürgerliche Nähe zerstört wird.
Manche Mythen kehren als Farcen oder als Gespenster wieder. Jürgen Teipels Punk-Doku-Roman „Verschwende Deine Jugend“ hat nicht nur die Fehlfarben, sondern auch die Deutsch-Amerikanische Freundschaft, kurz DAF, wiederbelebt. Auf ihrem DAF-Recycling-Comeback „Kinderzimmer (Heldenlied)“ (Universal) erinnern sie sich jetzt an ihr eigenes Jugendzimmer-Ambiente, wo Andreas Baader neben Bruce Lee Platz fand und eine Ulrike Meinhof à la mode genauso sexy war wie Raquel Welch. Im Zweifelsfall ist diese neueste Ästhetisierung der Politik zwar auf der Höhe der Zeit, aber nicht mehr als Subversion vertrauter Muster, sondern als Symptom einer Prada-Meinhof-Ära bedenkenloser Hipness.