Lieber Moritz, vielen Dank für Deine Antwort auf die Frage, warum neue Musik vielen Menschen fremd und unverständlich bleibt, ja manche sich sogar „zu blöd“ dafür vorkommen; und vielen Dank auch für das Plädoyer, neue Werke als Teil des Lebens und als Erlebnis anzusehen, das man nicht unbedingt verstehen muss. Beides spricht mir aus dem Herzen, und ganz in diesem Sinne halte ich es mit Bertolt Brecht, der einmal gesagt hat: „Nichts versteht man. Geschichten, die man versteht, sind schlecht erzählt.“
Bei grundsätzlichem Einverständnis geht mir Dein Lösungsvorschlag jedoch nicht weit genug. Er bleibt zu sehr in der Welt der Komponist*innen und ihrer Werke befangen, und das finde ich zu eng. Die Erfahrung neuer Musik kann viel reicher, lebensnäher, praxisbezogener sein. Daher möchte ich Deine Ideen ergänzen durch einige Vorschläge, die das Erlebnis des Neuen im tatsächlichen Leben der Menschen verankern und das „Leid mit der neuen Musik“ in eine Lust auf Neues und an neuer Musik verwandeln, die in uns selbst entdeckt, im Tun erfahren und auf Kompositionen übertragen werden kann. Durch den Katalysator lustvoller Eigenerfahrung kann neue Musik in der Fülle ihrer Phänomene zum Erlebnis werden.
Mein Ansatz ist: Man muss neue Musik weiter denken als in Werken – als ästhetische Erfahrung von Klang, der überall ist und von jedermann wahrgenommen und weitergeführt werden kann. Jede/r trägt neue Musik in sich, wir müssen nur die Ohren spitzen und horchen. Kunst und Musik stecken überall in der Natur (das wussten schon Dürer, Carlyle, Webern u. v. a.), in unseren Körpern und in unserer Lebenswelt, die hunderte von Klängen und tausend Möglichkeiten musikalischer Gestaltung bereitstellen. Man muss sie nur erhören und ergreifen. Alles, was in der Welt ist, kann als Musik erlebt werden, denn jeder Mensch, jedes Ding, jedes Ereignis hat seinen eigenen einzigartigen Klang (nach John Cage).
Und mit allem, was in der Welt ist, kann man neue Musik machen: mit Atem und Stimme, Körper und Seele in Regung und Bewegung, mit Sprechversen, Gesängen, Gedichten, Geschichten, Gefühlen, die sich in Klang ausdrücken, mit Namen und Wörtern, mit Laub und Lauten, Stöcken und Steinen, Türen und Toren, innen und außen. Dies alles ist da – und es ist, anders als in „klassischer“ Musik, aktuell und zeitgemäß da, nach der phantastischen Öffnung von Musik im 20. Jahrhundert. So wie Bachs Musik, wie Du sagst, einfach da war, müssen wir die wunderbaren, geheimnisvollen Klänge unserer Welt nur wahrnehmen, um als „Laienmusiker*innen“ von Geburt an und „Vermittler von Musik in direkte Kommunikation mit unserer Umwelt“ zu treten. In diesem grundsätzlichen Sinne ist neue Musik für mich ein Teil des Lebens – weil Leben genuin musikalisch ist.
Vieles von dem und manches mehr, was Hörer*innen und Spieler*innen bewegt, beeinflusst selbstverständlich auch Komponist*innen, die auf der gleichen Erde, in der gleichen Welt leben wie wir und unsere Himmel und Höllen teilen, wenn auch mit anderen Hör-Blicken auf die „Wirklichkeit“, und die Fülle aktueller Themen in neue, gesellschaftlich geprägte, einzigartig un-erhörte Klangkonstellationen verwandeln – „in einem offenen System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt“ (Saša Stanišic, „Herkunft“).
Die aber erscheinen uns nicht ganz so fremd mehr, wenn wir ihre Grundmotive und klanglichen Gründe als unsere eigenen entdecken und deuten – und in Kompositionen neuer Musik vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute wiederfinden: das Ticken oder Pochen des Herzschlags in Schönbergs op. 19 Nr. 2, das wir am eigenen Puls und an Improvisationen mit den Grundmotiven des Stücks erleben – die „Natürlichen Dauern“ Stockhausens, die wir in unseren musikalischen Körpern wiederfinden, zwischen kurzem Schlag und langem Klang – das Atmen in Nicolaus A. Hubers „Mit Erinnerung“ für Fagott, dessen körperlichen Grund wir im „atemgedicht“ von Gerhard Rühm finden, Urquell musikalischer Körper-Kunst – die Obertongesänge des „Gartentors“, die Hörer*innen, als Rezipient*innen und Produzent*innen zugleich, in Carola Bauckholts „Öffnungssituation“ erzeugen, erfüllteste Augenblicke des Lebens in geteilter Wirklichkeit – oder einfach zusammenkommen und Musik machen mit allem, was man hat – rules coming to themselves in demokratischen Prozessen!
Die Fülle der Musik befindet sich in unseren Händen und Häusern, Straßen und Sträuchern, Wolken und Wäldern; Hörer-Spieler*innen und Komponist*innen übersetzen sie in Kunst, mit den Worten Bernhard Waldenfels’: „Die Kunst ist ein Medium der Verwandlung, die mit dem beginnt, was uns sinnlich und leiblich widerfährt.“
Und nutzen wir die Konzeptmusik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wahre Schätze einer neuen community music für alle, Modelle voraussetzungsoffenen gemeinschaftlichen Musizierens, die alle Menschen zum Mitmachen einladen – neue Musik als soziale Praxis, die das Leben als Musik auffasst und in Musik verwandelt. Und verbinden wir dies – in Konzerten, Workshops, auf der Straße – mit Werken, die sich öffnen und „rückgängig machen“ lassen: auseinandernehmen, auf ihre Ursprünge zurückführen, „ihr Mieder lockern“, um mit Karl Kraus zu sprechen, mit anderen Werken verbinden und in Improvisationskonzepte oder neue Werke überführen – um dann über das lebendige Werk-Konzept-Gewimmel zu sprechen und zu streiten.
Lass uns Musik, unseren Geist, unsere Sinne und Körper, beweglich halten, lieber Moritz, mit Allan Kaprow: „The line between art and life should be kept as fluid, and perhaps indistinct, as possible“ – dann können wir allererst historische Lücken füllen, Schwellen überschreiten und neue Musik als das erleben, was sie ist: eine „Lösung“ im doppelten Sinne, Gesprächsangebot und Vorlage für das ästhetische Gebot: Erfahre! (nach M. Seel), Erlebe! (nach M. Eggert), LEBE neue Musik! – mit unvorhersehbarer Wirkung auf das Leben.