Dass das katholische Polen trotz päpstlicher Warnung im letzten Frühjahr mit Pauken und Trompeten auf den Irak-Kurs von Bush und Rumsfeld eingeschwenkt ist, hat in Westeuropa gehörige Irritationen ausgelöst. Doch der realpolitische Schachzug hat seine historischen Gründe und an die erinnert man sich hierzulande ungern. Da ist einmal der mit Stalin abgesprochene Überfall der Deutschen auf Polen von 1939 und die anschließende Vernichtungspolitik, die die Polen ebenso traf wie die dort lebenden Juden. Dann das Verhalten westeuropäischer Regierungen während des Kalten Krieges: Damals fühlten sich die Polen wie übrigens auch die Tschechen und anderen Osteuropäer von Deutschland und Frankreich im Stich gelassen. Nicht aber von den USA, die, aus welchen Interessen auch immer, sich stets kompromisslos auf die Seite der von der Sowjetunion unterdrückten Völker stellten.
Die historischen Wurzeln dieses „special relationship“ reichen aber noch weiter zurück. Im „Spiegel“ vom 11. August erinnerte Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker unmissverständlich daran: „Polen wurde in einer Zeit geteilt, als Amerika gegründet wurde. Seit Ende des 18. Jahrhunderts sind Hunderttausende von Polen in die USA ausgewandert. Das Land hat seine Unabhängigkeit im Jahr 1918 wesentlich dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zu verdanken und während des Kalten Krieges haben die Polen immer vom Land der Freiheit geträumt. Das verbindet sie mit den USA und dafür danken sie den Amerikanern auch. Wer ihnen deshalb eine schlechte Kinderstube vorwirft, ist historisch nicht besonders gut bewandert.“
Auf einem andern Blatt steht freilich die aktuelle Instrumentalisierung dieses geschichtlichen Erbes durch die Bush-Regierung mit dem Ziel, die Europäer zu spalten. Auch darauf weist der frühere Bundespräsident hin. Aber das ist ein anderes Problem und es hängt von den Europäern selbst ab, die Spaltung zu vermeiden.
Einsichten wie die von Weizsäckers, das Verhältnis zu Polen betreffend, waren bislang hierzulande nicht eben häufig zu hören; manche meinen noch immer, das Nachbarland sei eine Art Verlängerung von Mecklenburg-Vorpommern. Dass sich die polnischen Politiker seit einiger Zeit die Freiheit nehmen, mit ihren Kollegen im Westen auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln, muss erst noch verdaut werden.
Von Weizsäcker hat das künftige Gewicht unseres östlichen Nachbarn erkannt. Dem rückwärtsgewandten Konstrukt eines deutsch-französischen „Kerneuropas“, wie es sich etwa Habermas vorstellt, setzt er die zukunftsträchtigere Idee eines Kräftevierecks London-Paris-Berlin-Warschau entgegen, von dem eine neue Dynamik für Gesamteuropa ausgehen könnte.
Im Musikbereich ist das Vorurteil vom unterentwickelten östlichen Nachbarn ohnehin haltlos. 1956, als es in der Bundesrepublik außer der Wochenend-Veranstaltung in Donaueschingen und den Darmstädter Ferienkursen kein nennenwertes Festival für Neue Musik gab, wurde in Polen der Warschauer Herbst gegründet: Ein zweiwöchiges Großereignis, das die internationale Entwicklung der Neuen Musik in größtmöglicher Breite dokumentierte. Das Festival hat sich nun fast ein halbes Jahrhundert lang gehalten, allem politischen Auf und Ab, Kriegsrecht und Systemwechsel zum Trotz. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt im unermüdlichen Optimismus, gepaart mit Zähigkeit und Begeisterung, mit denen die Verantwortlichen, nun bereits in der dritten Generation, ihre politische Idee einer freien Musik in die Wirklichkeit umgesetzt haben. Der Publikumsandrang war auch immer entsprechend riesig.
Vor diesem Hintergrund einer fünfzigjährigen erfolgreichen Veranstalterpraxis muten die Besuche von Delegationen des Deutschen Musikrats beim Warschauer Herbst in den letzten beiden Jahren auf den ersten Blick etwas kurios an. War man doch mit der löblichen Absicht nach Warschau gefahren, mit den Polen die Probleme des Überlebens in schwieriger Zeit zu diskutieren – und das ausgerechnet in einer Zeit, da der Pleitegeier, von den meisten noch unbemerkt, über der eigenen Organisation schwebte. Aber auch wenn die Kommunikation bei diesen ersten Treffen vielleicht noch nicht immer nach Wunsch verlief und sich die unterschiedlichen Gesprächskulturen erst einmal aufeinander einstellen mussten – ein erster wichtiger Schritt in Richtung einer gutnachbarlichen Zusammenarbeit wurde gemacht.
Nun laufen die konkreten Projekte an. Beim diesjährigen Warschauer Herbst wird erstmals ein Konzert in Kooperation zwischen dem Deutschen Musikrat und dem Festival durchgeführt. Ein junges deutsch-polnisches Ensemble wird mit dem Dirigenten Rüdiger Bohn in einem einwöchigen Workshop neue Stücke einstudieren und aufführen. Ziel ist die Gründung eines festen Ensembles. Auch Österreich zeigt Interesse an einer Zusammenarbeit und bereits jetzt stößt der deutsch-französische Kulturrat dazu, womit das politische „Weimarer Dreieck“ der drei Staaten Frankreich, Polen und Deutschland die dringend nötige kulturelle Unterfütterung erfährt. Das bildet die organisatorische Basis für eine internationale Festival-Zusammenarbeit, die Kosten spart und den Wirkungsradius der investierten Kräfte vergrößern kann.
Auch der „Gegenverkehr“ wird vorangetrieben: In Zusammenarbeit mit der Siemens-Musikstiftung lädt der DMR demnächst sechs junge polnische Musikjournalisten zu mehrmonatigen Praktika in deutschen Redaktionen ein, was für den noch etwas unterbelichteten Informationsaustausch zwischen beiden Ländern nur fruchtbar sein kann.
Und auf Veranstalterebene, wo in Deutschland bislang ein schwer verständliches Desinteresse gegenüber dem östlichen Nachbarn herrschte, wollen als Erstes die Darmstädter Ferienkurse im nächsten Jahr ein Fenster nach Polen öffnen. Vor Ort kann Solf Schäfer, der Programmverantwortliche, auf die Mitwirkung eines hochkarätigen Partners zählen, des auf Anregung von Karl Dedecius gegründeten Deutschen Polen-Instituts; auch das Internationale Jazz-Institut macht mit.
In Deutschland, so scheint es, ist man dabei, das „Neue Europa“ zu entdecken – nicht das, von dem die Kriegsherren träumen, sondern das wirkliche, kulturelle.