Leserbriefe von Werner Rizzi und Jochem Wolters
Der verdienstvolle Artikel von Albrecht Dümling entspricht in allen Details auch meinem Kenntnisstand. Dennoch möchte ich ihn gerne in einigen Aspekten durch persönliche Anmerkungen ergänzen. In Kontakt mit Gottfried Wolters kam ich als kritischer Student in Heidelberg Anfang der siebziger Jahre durch einige Kommilitonen, die von den Kursen in Hinterschmiding schwärmten. Die deutsche Geschichte im Hinterkopf näherte ich mich zunächst mit vorsichtiger Distanz. Bald arbeitete ich im Arbeitskreis Musik in der Jugend mit und nach einigen intensiven Begegnungen mit Gottfried Wolters durfte ich unter anderem im Ansingechor bei Europa Cantat mitsingen.
Besonders den Kosmos der Musik aus Renaissance und Frühbarock konnte er uns eröffnen und authentisch nahe bringen. War es ein Glück für Gottfried Wolters, bei der Entnazifizierung als „unbelastet“ eingestuft zu werden oder hat diese Tatsache das Bewusstsein über seine Verantwortung eher verstärkt und gerade zu seinem humanistischen Handeln beigetragen? Ich glaube, dass dieses der Fall war, denn er hat mich und andere sehr schnell überzeugt, dadurch, dass er in kleiner Runde keinem kritischen Gespräch zur Jugendbewegung und zur Zeit des Nationalsozialismus aus dem Weg ging und diese Bürde in ein Vermächtnis zur Völkerverständigung praktisch umsetzte und lebte. Er war – spätestens seit den sechziger Jahren – überzeugt von der politischen Dimension internationaler Begegnungen und nutzte sein Charisma, um intensiv gemeinsam zu musizieren. „Wer sich singend so begegnet, wird nicht mehr aufeinander schießen können,“ war ein Wahlspruch für ihn geworden. Meine Generation konnte für Chor- und Singanleitung enorm viel lernen, gerade weil Gottfried Wolters in keinem Aspekt zu kopieren war. Jeder musste das, was ihm gefiel, erst in die eigene Persönlichkeit übersetzen. Durch die geeignete Mischung aus reflektierter Planung und intuitiver Spontaneität gelang ihm die zielführende Arbeit, die uns faszinierte und prägte. Gottfried Wolters fühlte sich besonders in der Alten Musik, dem Chorlied über nationale Grenzen hinweg und später in der Chormusik der Romantik beheimatet, die er in seinen letzten Jahren neu für sich entdeckte. Als Herausgeber hat er in all diesen Genres Maßstäbe gesetzt.
Ich habe nur den „Altersstil“ seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte persönlich erlebt, und dazu gehören auch unvergessliche Konzerte, wie zum Beispiel seine exemplarische Aufführung der Marienvesper von Claudio Monteverdi in Luzern bei Europa Cantat 1979. Aus heutiger Sicht ist ihm aus meiner Sicht eine wesentliche Reform der Reife gelungen: Das Musikwerk stand im Mittelpunkt. Das affirmative „Gemeinschaftserlebnis“ bildete nurmehr den öffnenden Rahmen für musikalische Ernsthaftigkeit und reflektierte Tiefe, ohne dabei Emotionen und Freude am Singen außen vor zu lassen.
Werner Rizzi, Solingen
Die Teilnehmerin eines von Gottfried Wolters geleiteten Musiklehrgangs mit HJ-Führerinnen und -Führern in Hassitz bei Glatz, die am 20.04.1944 („Führergeburtstag“) den Frühstückssaal geschmückt und ein Hitlerbild mit Blumen bekränzt hatte, berichtet:
„Als sich der Frühstückssaal füllte und Gottfried Wolters das alles erblickte, blieb er einen Augenblick stumm davor stehen. Kein Lächeln. Er schaute in die Runde und fragte: ‚Wer hat denn DAS gemacht?!‘ Munter und strahlend rief ich: ‚Ich war das. Er hat doch Geburtstag! Heute ist doch der 20.!‘ Keine Reaktion außer ‚Ach ja‘. Beim obligaten Aufziehen der Fahne kein Lied zu seinem besonderen Lobpreis. Nur irgendein Morgenlied. Das Ritual wurde von einem der HJ-Führer vollzogen. Wir grüßten mit erhobenem Arm, Gottfried Wolters wie immer mit der Hand an der Marineleutnantmütze. Schleunigst entfernte ich die Girlande, aber was nutzte das noch? Ich schämte mich. Jetzt plötzlich fiel mir auf, dass hier in Hassitz und von Wolters kein Nationalsozialismus verkündet wurde, in keiner Form, in keinem Lied, und Hitler-Kult schon gar nicht. Er wollte diesen Mann nicht blütenumkränzt sehen. Dass musste ich erst einmal einordnen. Heilige Einfalt. Warum verstand ich die Welt nicht mehr?
Gottfried Wolters liebte unser Land, aber nicht die Nazis. Das war also zweierlei? Diese Abfuhr, die bestimmt nicht persönlich von ihm gemeint war, traf mich und setzte einen wichtigen Entwicklungsprozess in meinem Gehirn in Gang. [...] Ob diejenigen, die Wolters beauftragt hatten, lauter HJ-Führer-/innen hier weiterzubilden, überhaupt wussten, welch ein entschiedener Gegner er war? Übrigens behielt ich diese Erkenntnis, wieder nach Hause gekommen, für mich.“ Schreiben von Gerlinde Löw (Zeitzeugin) vom 10.01.1994 (Archiv Gottfried Wolters).
Jochem Wolters