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Orwells Triumph: die Kulturen der Lüge

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Bekanntlich beschrieb der britische Autor George Orwell in seinem, wie man heute leider sagen muss, prophetischen Roman „1984“, wie im so genannten Ministerium der Liebe gefoltert und im Ministerium der Wahrheit Propaganda verbreitet und die Realität nicht nur uminterpretiert, sondern im Bedarfsfall einfach ganz gelöscht wird. Warum das für die Kunst, speziell die Musik interessant ist? Etwa weil es mittlerweile diverse Orwell-Libretti gibt und darüber hinaus mehr oder weniger ambitionierte Versuche Orwells Dystopie in düstere Sounds zu übersetzen? Nein, der Grund für Orwells Aktualität reicht viel weiter und ist bedrückender. Kunst – und auch die „reinste“ aller Künste: die Musik – existiert nicht in einem hermetischen Elfenbeinturm, in einer Welt eigenen Rechts, sondern mitten in der Gesellschaft. Zwar soll sie nur ihren eigenen Regeln und Imperativen folgen und nicht denen anderer Sub-Systeme, wie das bei Luhmann heißt, also etwa der Politik, der Pädagogik oder der Religion, aber sie gedeiht nur auf einem gemeinsamen Humus. Früher war das der Mythos, also der sich ständig erneuernde Bestand an Erzählungen und Überzeugungen, der für alle verbindlich war. Heute spricht man von Kultur oder vielleicht besser im Plural von Kulturen. Sie legen unsere Selbst- und Weltbilder fest und die Regeln des Umgangs miteinander. Wenn das Fundament nicht trägt, weil es von vornherein schief ist, dann wird alles brüchig. Wenn der Boden vergiftet ist, dann kann die schönste Pflanze, etwa die blaue Blume der Romantiker, nicht gedeihen. Kurz: Es kann niemandem gleichgültig sein, wenn die Kultur der Lüge zum Normalfall wird, wenn nur noch der als „clever“ oder überhaupt als gesellschaftsfähig gilt, der lügt und leugnet, der der Wahrheit so lange einen „spin“ gibt, wie das heutzutage heißt, bis sie so verdreht ist, dass sie für den jeweiligen eigenen Zweck passt. Kulturen der Lüge heißt es, weil auf höchst verschiedene, aber jeweils vergleichbar virtuose Weise gelogen und gelöscht wird. Wer einfach nur sagt, was er denkt oder sieht, wer nicht darauf achtet, wie die aktuelle Sprachregelung lautet, der wird rasch zum „misfit“. Dem Komponisten Stockhausen ist es nach dem 11. September so ergangen, weil er rein ästhetisch und analytisch reagierte, wo doch allein moralische Empörung, rituelles Mitgefühl und politische Subordination angemessen war.
Weil Stockhausen sagte, was, zumindest zu dieser Zeit, niemand sagen durfte, wurde er gelöscht; zwar nicht als private Person, physisch, sehr wohl aber als öffentliche Person, als Komponist, als einer, der eine Stimme hat und nicht nur atmet. Festivals, Aufführungen, die seiner Musik galten, wurden abgesagt. Und wer das tat, wollte zuallererst seine eigene Haut retten. Auch die bekannte indische Autorin Arundhati Roy, die gesagt hatte, Bush und bin Ladin seien „dunkle“ Brüder, wofür sie Argumente anführte, verfiel dem Verdikt. Und zwar ohne dass ihre Argumente geprüft worden wären. Was sie gesagt hatte, war ja „unmöglich“, also musste man nicht erst schauen, ob es wahr oder falsch war.

Man kann auch lügen, indem man verschweigt; oder die Geschichte so erzählt, dass sie der Zuhörer wahrscheinlich falsch versteht. Die hochbrisante Äußerung des neuen iranischen Präsidenten Ahmadineschad, Israel müsse von der Landkarte verschwinden, wurde unisono so kolportiert, dass man sie „nach Auschwitz“ als Aufforderung zum Massenmord an den Juden verstehen musste und nicht „nur“ als Forderung der Ersetzung des „zionistischen“ Staates Israel durch ein multi-ethnisches „demokratisches“ Palästina. Wohlgemerkt: Die Rede Ahmadineschads ist auch in ihrer „authentischen“ Version explosiv genug, aber es besteht doch ein Riesenunterschied zwischen einer falschen, vielleicht sogar fatalen Politik und schierer Mordlust. Wer in den 60er- oder 70er-Jahren junge Menschen von den Vorzügen der westlichen Lebensform, speziell des freien Worts, der freien Presse überzeugen wollte, der gab ihnen gern das „Neue Deutschland“, das Verlautbarungsorgan des DDR-Regimes zu lesen. Das war eine orwellsche Erfahrung. Der große Bruder sprach und alle hörten zu. Selbst zu sprechen, gar anders, „abweichend“ zu argumentieren, konnte einem Kopf und Kragen kosten. Bedrückender noch als die Lüge wirkte die absolute Vorhersehbarkeit all dessen, was da gedruckt wurde. Man brauchte das „Neue Deutschland“ nicht zu lesen, weil man auch ohne Lektüre wusste, was zu einem bestimmten Thema drinstand. Mittlerweile wirkt auch die „freie“ Presse im siegreichen Westen oft merkwürdig gleichgeschaltet. Zu manchem scheint eine abweichende Meinung nicht mehr möglich, weil man dadurch seine Existenz, seine Stellung riskierte.

In anderen Fällen wird so plump gelogen, als komme es auf die Logik der eigenen Rede längst nicht mehr an. Wenn etwa der „Steuerexperte“ Kirchhof, der durch seine „aufkommensneutrale“ Reform die Reichen und ganz Reichen um zigtausende Euro entlasten wollte, zugleich behauptete, die neuen Regeln kämen allen, vor allem den Ärmeren zugute. Oder wenn man bei den neuen Hartz- IV-Regelungen von „Missbrauch“ spricht, nur weil die Betroffenen von den Paragraphen so Gebrauch machten, wie es nicht im Sinne der Erfinder ist. Dazu passt dann auch ein neuer „big brother“-Totalitarismus mitten in der freiheitlichen Gesellschaft. Etwa wenn Behördenvertreter drohend und vieldeutig sagen, man habe mehrmals zu verschiedenen Zeiten bei Herrn oder Frau X angerufen und nie jemanden „angetroffen“. Als gelte für Langzeitarbeitslose bereits Hausarrest oder zumindest die Pflicht, den Telefonhörer abzuheben.

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