Ich sehe es als meine Hauptaufgabe an, meinen Studierenden dabei zu helfen, ihren eigenen musikalischen Tonfall zu entdecken. Es ist dabei vollkommen unerheblich, ob mir dieser Tonfall besonders gut gefällt oder ob er mir eher fremd ist. Wenn es zur Person passt, wenn es authentisch ist, dann ist es richtig.
Ich halte nicht viel davon, wenn sich die Studierenden irgendeinem Stil anpassen, nur weil es gerade en vogue ist oder Erfolg verspricht. Es bringt auch nichts, wenn die Studierenden meinen Tonfall imitieren (machen sie eh nicht). Ich kann meine eigenen Erfahrungen und meine eigenen Ansichten mit ihnen teilen, ich achte aber sehr sorgfältig darauf, immer deutlich zu formulieren, dass es sich hier um eine Ansicht, nicht um eine unumstößliche Wahrheit handelt. Ich war nicht nur einst ein Suchender wie sie auch, ich bin es auch immer noch.
Ich finde es sehr schön, dass es in der Kunst keine „Wahrheit“ in dem Sinne gibt. Was dem einen ein Monument ist, ist dem anderen ein Schandmal. Was zuerst bespuckt wird, kann im Nachhinein Bewunderung auslösen. Was allseits bewundert wird, kann später anöden. In diesem Wald aus Noten, Ideen und Ansichten gibt es nicht die eine unerschütterliche Regel, nicht den einen einzigen richtigen Ansatz. Es gibt nur unendlich viele Alternativen, und wenn man sich für eine entscheidet, muss dies aus Begeisterung und Liebe entstehen, nicht aus dem Wunsch nach Anerkennung und irgendwelchen akademischen Ehren. Die Authentizität einer Komponistin oder eines Komponisten ist nicht mit Noten und Punkten zu fassen, sie ist aber etwas, das man als Lehrer spüren kann.
Wenn ich eines in den vielen Jahren Unterrichten gelernt habe, dann ist es, dass es manchmal lange dauern kann, bis es bei individuellen Studierenden eine Epiphanie über ihren eigenen kommenden Weg gibt. Es muss auch nicht nur eine einzige Epiphanie sein – ein Erkenntnisgewinn kann dem Vorherigen folgen. Aber es braucht viel Geduld (was ich immer dann merke, wenn ich mit bestimmten Studierenden ungeduldig werde, und sie mich dann, wenn ich es am wenigsten erwarte, aus heiterem Himmel überraschen).
Die Belohnung sind die großen Glücksmomente, die manchmal entstehen, wenn die Studierenden wieder einen großen Schritt machen, wenn die Suche im Wald plötzlich ein Ergebnis bringt, wenn plötzlich wie bei einem Puzzle alles zusammenpasst. Gerade neulich überraschten mich gleich mehrere Studierende an einem Tag mit einem solchen Moment und beeindruckten mich mit einem neuen Tonfall, einem neuen Ansatz in ihrer Musik. Vorher merkt man, dass sie an dem Problem knabbern, aber keine Lösung finden. Das kann sich Monate, sogar Jahre hinziehen. Und dann erfährt man als Lehrer plötzlich, dass irgendein kleiner Nebensatz in irgendeiner Kompositionsstunde vor vielen Jahren irgendetwas ausgelöst hat, das jetzt in eine Erkenntnis gemündet hat. Das macht mich dann sehr glücklich.
Oft sind außermusikalische Erlebnisse Auslöser für diese Epiphanien. Ein Museumsbesuch mit der Freundin, ein Wandertag in den Alpen, ein Gedicht, ein Film, ein Buch … Das sind alles Erfahrungen, die eine spezialisierte akademische Ausbildung nicht vermitteln kann. Ich kann Anregungen und Hinweise geben, aber diese „Trigger“-Momente entstehen oft unvermittelt und zufällig, und nur dann, wenn man über den eigenen Tellerrand hinausschaut.
Man weiß, dass John Cage bei den seltenen Gelegenheiten, in denen er unterrichtete, kaum über Musik sprach. Lieber ging er mit seinen Studierenden in den Wald, um Pilze zu sammeln. In der Beschäftigung mit etwas Anderem erhoffte er sich sicherlich einen symbolischen Moment, der Erkenntnis verursacht. Man muss ein bisschen Glück haben, um im Wald Pilze zu finden, aber wer es kontinuierlich versucht, wird ganz sicher irgendwann Erfolg haben.