Viele Menschen stellen sich das Komponieren als eine Art freies Fabulieren vor – die Töne fliegen einem zu (sodenn man inspiriert ist), und man muss es alles nur aufschreiben, damit schöne Musik draus wird. Diese vollkommene Freiheit ist natürlich eine idealisierte Vorstellung. Eine begabte Schriftstellerin zum Beispiel kann sicherlich auch einfach mal drauf los schreiben, irgendwann wird aber auch sie anfangen, das Geschriebene zu strukturieren, zu ordnen und zu unterteilen. Selbst im komplett spontan improvisierten Free Jazz gibt es keine vollkommene Freiheit, da sich das, „was in den Fingern liegt“ oder durch die Instrumente „angeboten“ wird, oft als bestimmender für die Musik erweist als die eigentliche Phantasie der Interpreten.
Interessante Musik entsteht daher meistens aus der Reibung von Konstruktion und Spontaneität: Die eigene Phantasie tritt gegen die Grenzen an, die einem ein bestimmtes Regelsystem setzt (in der Vergangenheit zum Beispiel die Schablone „Fuge“ oder „Sonate“) , und die Komposition zeigt uns, wie sich die Individualität der Komponisten gegen diese Limitierungen behauptet.
Im 20. Jahrhundert ist der Kanon der Regelsysteme auf beeindruckende Weise erweitert worden. Was mit dem relativ simplen 12-Ton-System begann, wuchs sich zu einer riesigen Menge von „Kompositionssystemen“ aus, die jeweils versuchen, eine ästhetische Idee in eine Form von möglichst nüchterner handwerklicher Methodik zu übertragen. Diese Systeme haben inzwischen einen Grad von Komplexität erreicht, der vielfach nur noch mit Hilfe von Computern bewältigt werden kann, und sich Laien im Gegensatz zu den früheren Kompositionsmodellen nicht mehr intuitiv vermitteln lässt.
Diese Entwicklung bewirkte aber auch, dass sich eine Form von Unmusikalität in der Neuen Musik breit machte, denn nun war ureigentliche Musikalität nicht mehr nötig, um komplexe Partituren zu schaffen. Daher lesen sich bis heute viele Partituren wie Masterarbeiten eines Ingenieurs: Erst kämpft man sich als Leser durch seitenlange Erklärungen von brav angelernten Spieltechniken, dann wird das „Konzept“ des Stückes erklärt, und ganz am Schluss kommt dann eine Partitur, in der alles schön brav in Töne umgesetzt wurde. Überraschendes oder Widersprüchliches – so wichtig für die Erzeugung poetischer Momente in der Musik – sind hier im eigentlichen nicht mehr erwünscht, denn es ist wichtiger, dass die „Maschine” des Stückes mit möglichst großer Konsequenz „läuft”.
Leider wird durch die zunehmende Akademisierung und Kompetitivität (durch die zahlreichen Kompositionswettbewerbe und Stipendien) diese für Hörer meist wenig spannende Vorgehensweise noch zusätzlich ermutigt. Viele Komponisten „tunen” ihre Stücke wie für ein Formel-1-Rennen. Man kann förmlich die Schrauben sehen, die alles zusammenhalten, und es werden immer neue „Methoden” ausprobiert, deren Erfüllung vielleicht den nächsten „Sieg”, also die Anerkennung des Fachpublikums beziehungsweise das nächste Stipendium bringen kann.
Viele Studenten haben daher das Gefühl, auch uns als Kompositionsehrer mit der Erfüllung des „Plansolls” zu beeindrucken. Wortreich erklären sie ihre ausgefeilten Konzepte und wünschen sich Tipps, wie man diese noch effizienter umsetzen kann. Ich erinnere mich dann immer an meinen Lehrer Wilhelm Killmayer, der angesichts solcher Stücke immer zu fragen pflegte: “sind Sie sicher, dass es hier so weitergehen muss?”. Killmayer misstraute nicht unbedingt dem Ziel des jeweiligen Kompositionsplans, aber er hielt die Freiheit für ein zu wichtiges Gut, um es der Erfüllung eines solchen Plans zu opfern. Für ihn war ein „Aussteigen”, ein „Hinterfragen” jederzeit möglich, und er hielt es sogar für eine Qualität eines Stückes, wenn sich der spontane und vielleicht sogar vollkommen verrückte Einfall durchsetzte gegen die rigide Erfüllung einer Methode. Kein Wunder: Killmayer war in der Nazizeit groß geworden und hatte am eigenen Leib erlebt, wohin die bedingungslose Unterwerfung unter einen „Plan” führen kann.
Ich denke oft an ihn, gerade in dieser verrückt gewordenen Zeit, in der sich die Menschen wieder die Diktaturen zurückwünschen, die ihnen die Welt in möglichst einfachen Worten erklären. Und dann frage ich auch meine Studenten gerne und immer wieder: “muss es hier so weitergehen?”. Ich denke nein. Mit jeder neuen Seite einer Komposition beginnt die große Freiheit, das müssen wir uns immer wieder klarmachen.