Am 10. Oktober fand in Berlin eine Demonstration statt, die Protestgruppen gegen das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) versammelte. Unter den Unterstützern fanden sich unterschiedliche Interessengruppen wie der Deutsche Kulturrat, Brot für die Welt, Greenpeace, die Gewerkschaft Erziehung/Wissenschaft, der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Volkssolidarität, der Katholische Arbeitnehmerbund und viele weitere. Mit geschätzten 150.000 bis 250.000 Teilnehmern handelte es sich um den größten Demonstrationszug in Berlin seit Jahren.
Die berechtigten Sorgen über die Gestaltung der Inhalte des Abkommens, deren Verhandlungen nach wie vor äußerst intransparent geführt werden (die 11. Runde läuft derzeit), haben sich mit einer Deutlichkeit und Unterstützung artikuliert, mit der politischer Protest schon lange nicht mehr nach außen getragen worden ist. Selbst die Veranstalter waren von der Anzahl der Unterstützer ihrer Proteste überrascht.
Was speziell den Bereich der Kultur innerhalb des TTIP-Abkommens angeht, wird von Seiten der Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums, das federführend in die Verhandlungen eingebunden ist, zwar immer zugesichert, dass „Kultur“ und „Bildung“ nicht tangiert würden. Nur, verlassen sollte man sich darauf besser nicht. Es ist ja der Sinn von Verhandlungen, dass man verhandelt, dass es ein Nehmen und Geben ist. So wird niemand garantieren können, dass das Prinzip der kulturellen Vielfalt erhalten bleibt, wie es die von den europäischen Staaten unterzeichnete UNESCO-Konvention vorsieht: Sei es im Bereich des Urheberrechts, sei es im Bereich der Buchpreisbindung, sei es im Bereich der Subventionierung von kulturellen Angeboten von Theatern bis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Denn, die USA haben diese UNESCO-Konvention nicht ratifiziert. „Die Europäer wollen bei grundlegenden Prinzipien wie den Menschenrechten (…) keine Abstriche machen“, sagt die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström. Wie bitte? Waren bislang auch die Menschenrechte Gegenstand der Verhandlungsmasse? Dieser Irrsinn ist kaum zu fassen.
Erstaunlicherweise hat diese Großveranstaltung jedoch in den großen Tageszeitungen oder Wochenmagazinen kaum Widerhall gefunden. Es wirkt geradezu so, als ob es da ein Stillhalteabkommen gäbe. Sogar im Gegenteil: In einigen Medien wie Spiegel-Online oder der WELT haben sich an prominenter Stelle Kommentare gefunden, die darauf abzielen, die Proteste gegen TTIP als Veranstaltung aus dem Wolkenkuckucksheim abzutun, wenn nicht gar sie zu diskreditieren. Angeblich hätten sich längst „heimliche Anführer“ an die Spitze der Proteste gegen TTIP gestellt. Wörtlich schreibt der Autor Alexander Neubacher bei Spiegel-Online: „Die Geisteshaltung vieler Anti-TTIP-Aktivisten ist im Kern eine dumpf nationalistische. Offene Grenzen sind ihnen ein Gräuel, ob es nun um Menschen oder um Handelsbeziehungen geht.“ Und weiter: „Die Kampagne gegen den Freihandel ist wie auf dem braunen Mist gewachsen.“ Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, kommentierte das auf Twitter mit der Gegenfrage, in welcher Parallelwelt der Kommentator denn lebe.
An anderer Stelle wird eine auf der Demo mitgeführte Guillotine mit den Galgen bei Pegida-Demos verglichen, um darzulegen, wie spinnert die TTIP-Demonstranten eigentlich seien, so in der WELT. Gleichzeitig beruhigt dort der Kommentator seine Leser über die Zukunft von TTIP mit wirren Worten, deren Logik sich nicht so recht erschließen will: „Wikileaks hat den geheimen Urheberrechtsabschnitt des Pazifikabkommens ergattert, und was steht dort? Gesundheitsvorsorge hat Vorrang. Wenn eine Notlage Maßnahmen erfordert, die mit dem Abkommen kollidieren, wird das Abkommen angepasst, nicht die Notlage ignoriert.“ Genau! Und bestimmt ist jetzt auch Espresso ein Beruhigungsgetränk. Lechts vor Rinks, oder so. Die Gegenkampagne der Medien ist so fadenscheinig und so schlecht, dass man dahinter eigentlich Absicht vermuten muss: Die Argumente müssen nur blöd genug sein, damit jeder sehen kann, dass das nicht ernst gemeint sein kann.
Es liegt in der Natur des Demonstrationsrechts, dass man sich auch vor Beifall aus der falschen Ecke nicht schützen kann, so wenig, wie man, weil Sigmar Gabriel Wagner hört, zum TTIP-Befürworter wird, wenn man auch Wagner hört. Irritierend ist zudem, mit welchen Gegenmitteln die TTIP-Befürworter auf den Protest reagieren. So hat das Bundeswirtschaftsministerium Anzeigen im Wert von 235.794 Euro in großen Tageszeitungen schalten lassen, die anlässlich der Großdemonstration in Berlin für TTIP werben sollten. Doch schlimmer noch: Im Zusammenhang mit der Nicht-Berichterstattung der großen Tageszeitungen wirkt die Anzeigenkampagne wie ein Schweigegeld. Anzeigenkunden verprellt man schließlich nicht mit einer differenziert-kritischen Berichterstattung.
Aber in seiner Anzeige hat sich Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) selbst ein Bein gestellt. Nicht nur die Tatsache, dass er zu dieser Maßnahme greift, ist (auch politisch) bedenklich, sondern was er dort schreibt: „(…) weltweit werden momentan zahlreiche Freihandelsabkommen verhandelt. Mit schlechteren Regeln, als wir sie selbst jetzt gestalten können.“ Der Komparativ „schlechter(en)“ gesteht ein, dass die neuen Regeln „nur“ schlecht sein werden. Oder eben besser, aber immer noch schlecht.
Nein, der Deutsche Kulturrat ist kein Mitläufer hinter heimlichen Anführern aus einer „braunen“ Soße. Wer sich zu dieser Ansicht versteigt, lebt nicht einmal mehr in einer Parallel-, sondern in einer (Alb-)Traumwelt. Es wird Zeit zum Aufwachen. Aber wer könnte Politik und Medien wecken? Der Schlaf der Vernunft ist nämlich tief und bequem. Das wusste schon Immanuel Kant: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“ Man sollte sich daher keinesfalls so mir nichts dir nichts auf die Geheimpolitik verlassen. Mündige Bürger brauchen keine vormündige(n) Politik(er).