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Quartett mit Waldesduft

Untertitel
www.beckmesser.de (2017/02)
Publikationsdatum
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Aus der Ferne sieht die Hamburger Elbphilharmonie großartig aus. Ein sogenanntes Wahrzeichen. Wie eine Sphinx auf dem Felsen thront sie auf ihrem Speicher und wartet auf den Wanderer, der ihre Frage zur Akustik beantworten kann. Und je näher man ihr kommt, desto respektheischender wirkt sie. Majes­tätisch schaut sie hinter den davorstehenden Gebäuden hervor, und steht man davor, wirkt der fast fensterlose Unterbau wie ein riesiger Bunker.

Unten rechts ist ein Mauseloch, durch das die Besucher ins Innere gelangen. Hinauf durch den kahlen Korridor auf der endlosen Rolltreppe, die mit ihrer Länge noch die Laufbänder des Amsterdamer Flughafens in den Schatten stellt. Und dann steht man im glitzernden Inneren und kann den touristischen Blick auf das Hamburger Hafenbecken genießen. Ringsherum alles edle Materialien, die Scheiben aus gewölbtem Glas spiegeln den Besucher in surreal gebrochener Optik. Tolle Inszenierung, bis ins Klo hinein.

Doch wo geht es zum Kleinen Saal? Irgendwo gibt es eine Treppe, und wir kommen zum Foyer. Hurra, geschafft! Leider nur fast, denn nun folgt eine letzte Hürde: die Garderobe. Eine diskrete, etwa sechs Meter lange Öffnung in der kostbaren Wandverschalung hinten rechts, wo vier junge Leute die Wintermäntel der rund 500 in langen Schlangen anstehenden Besucher entgegennehmen. Macht bei 30 Sekunden pro Mantel, geteilt durch 4, eine glatte Stunde Stress. Man bittet um rechtzeitiges Erscheinen. Und nun nichts wie rein in den Kleinen Saal. Stopp, falsch gelaufen. Die breite Treppe neben der Garderobe endet an einer Glasscheibe im Nichts. Wo geht’s zum Eingang? Bitte links hinten um die Ecke.

Endlich drin. Nach dem Zickzacklauf durch Plattformen, Treppen und Foyers wird man nun aber wirklich belohnt. Erst einmal olfaktorisch, denn es riecht frisch nach Wald. Das hat vermutlich mit der Holzverkleidung zu tun. Die Baumsorte ist mit der Nase nicht identifizierbar, es soll sich aber um Eiche handeln. Die Holzplatten sind computergesteuert in unregelmäßiger Wellenform zurechtgefräst und reflektieren damit den Klang in unendlich vielen Winkeln. Und da der Saal eine ganz banale Schuhschachtel ist, ohne Weinbergschnickschnack und Von-überall-gleich-guter-Blick-auf-den-Dirigenten-Garantie, klingt er auch ganz hervorragend. Eigentlich fast zu gut. Das Konzert mit dem Arditti Quartett, das erste mit Musik der Gegenwart in diesem Saal, war ein guter Maßstab. Die Akustik liefert einen hellen Klang mit kurzer Nachhallzeit. Er ist nicht hart, aber unglaublich trennscharf und plastisch im Detail; in der elften Reihe, also ungefähr in der Mitte, klingt es, als ob man direkt neben den Instrumenten stünde. Das unerhört facettenreiche Spiel der Ardittis in Helmut Lachenmanns drittem Quartett „Grido“ wird zum aufregenden Hörabenteuer. Streichen vor, auf und hinter dem Steg, in unterschiedlichen Positionen auf dem Griffbrett, Knarzen auf dem Holz, col legno, flautando, tonlos gestrichen, Pizzicato hier, Pizzicato dort: all diese Artikulationsunterschiede hört man bis in die kleinsten Nuancen mit einer Deutlichkeit, die an eine perfekte Studioaufnahme mit einem halben Dutzend Nahmikrofonen erinnert.

Über der Faszination an diesen Klangdetails vergisst man beinahe die Musik selbst – vor lauter Eichenbaumzauber läuft man Gefahr, das große Rauschen des musikalischen Waldes nicht mehr zu hören. Dem verdinglichten Hören, zu dem das raffinierte Akus­tikdesign verleitet, muss man widerstehen lernen. Es geht um ein Konzert und nicht um einen Akustiktest. Neben Stücken von Lachenmann, Ferneyhough und Manoury war mit dem ers­ten Streichquartett von Younghi Pagh-Paan auch eine Uraufführung zu hören. Für das vom Arditti Quartett in Auftrag gegebene Werk hat sich die Komponis­tin fast drei Jahrzehnte Zeit gelassen – mehr als seinerzeit Luigi Nono beim LaSalle Quartett. Das lange Warten hat sich gelohnt. Entstanden ist ein großes Werk, das Ausdrucksintensität und minutiös ausgearbeitetes Detail in ein organisches Gleichgewicht bringt und dessen Klangerscheinung auf eine geis­tige Realität jenseits der bloßen Materialsphäre verweist.

Für die strukturbetonte Neue Musik und das auf analytische Klarheit angelegte Spiel des Arditti Quartetts bietet dieser Saal sensationell gute Hörbedingungen. Sollte er einen Namen bekommen, müsste er eigentlich „Arditti Hall“ oder „Lachenmann-Studio“ heißen. Aber wie klingt er wohl bei Schubert oder einem langsamen Quartettsatz von Haydn? Wie stark treten die Wärme und Intimität des Klangs dann hinter der analytischen Trennschärfe zurück? Eine Diskussion der Hörerfahrungen dürfte interessant werden.
 

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