Der Papst, in dieser Hinsicht ganz Kind der 50er- und 60er-Jahre zwischen Schelskys „skeptischer Generation“ und dem wüsten 68er-Experimentieren mit alternativen Lebens- und Gesellschaftsformen, geißelt noch immer den Relativismus und Nihilismus, der aus der wirklichen Welt, jedenfalls so, wie sie politisch-medial erscheint, längst verschwunden ist. Es gibt wieder Sinnversprechen, Werte und Normen en masse. Sie verpanzern sich fundamentalistisch gegen Einwände und fühlen sich moralisch nicht nur ermächtigt, sondern geradezu verpflichtet, das eigene Weltbild durchzusetzen; wenn es sein muss, auch bellizistisch, also durch krude Gewalt gegen den „Feind“ samt etwaigen Kollateralschäden bei Unbeteiligten. Wer das Abendland in der Defensive oder gar am Abgrund wähnt, der verkennt die Kampfbereitschaft, ja -lust großer Teile der „westlichen Wertegemeinschaft“, von der gerade der republikanische Möchtegernpräsident des Jahres 2008 und frühere Mehrheitsführer der neo-konservativen „Revolution“ im Kongress, Newt Gingrich, in einem aufsehenerregenden Interview mit der Weltpresse Zeugnis ablegte: „Der Dritte Weltkrieg hat bereits begonnen.“ Und anders als der etwas leichtsinnige jüdische Premier Ehud Olmert versprach er keinen raschen Sieg, sondern „Blut, Schweiß und Tränen“, zwanzig Jahre lang. Aber das anvisierte Ziel ist ihm offenbar jeden Verlust und Schmerz wert. Es lautet wie schon seit den Zeiten von Bush Senior: „new world order“.
Wer aber ist „schuld“, wer trägt die Verantwortung für all das Übel, das da heraufbeschworen wird. Das fragt sich nicht nur der Christenmensch, der so sozialisiert worden ist, sondern auch der wendige Intellektuelle, aus dessen Mund der Welt- oder zumindest Zeit-Geist spricht. Hans Magnus Enzensberger, seit Jahrzehnten die erste Adresse in derlei Dingen, hat in einem Groß-Essay zuerst für den „Spiegel“ und dann, in erweiterter Form, für die edition suhrkamp, diese Frage beantwortet – und aus ihm spricht der Geist der neuen Epoche des asymmetrischen Weltbürgerkriegs. Schuld sind keineswegs die Gewinner und ihre Gier, die in mehrfacher Hinsicht keine Grenzen kennt. Schuld sind die „radikalen Verlierer“, die nicht damit zurechtkommen, dass sie beim „großen Geschäft“ auf der Strecke bleiben. Sie verwandeln sich in „Schreckens Männer“ und rächen sich durch den Terror einer scheinbar unterschiedslosen Auslöschung an der „schönen neuen Welt“, die ihnen den Zutritt verweigert und die sie nur als Ressource oder Abfall wahrnimmt. Besonders unheimlich, ja fast schon gespenstisch macht diese verletzten Amokläufer, die sich in den guten, starken Glauben weit weg von allem gedankenblassen Relativismus und Nihilismus stürzen, dass sie auch den eigenen Tod nicht scheuen.
Das ist nicht „normal“; das ist nicht einmal kriminell, wie noch die Rede vom „Reich“ beziehungsweise, nach dem Ende des kommunistischen Imperiums, von der „Achse des Bösen“ suggerierte, das ist für Enzensberger und Co. pathologisch. Das politische und militärische Handeln der anderen wird so zum Symptom einer Krankheit. Und jede Medizin ist gegen diese Seuche zulässig; moralische Bedenken wären da fehl am Platz.
Die „Normalität“, die Überzeugung von einem richtigen Leben, zu dem es auch gehört, dass es, „universalistisch“, falsche Überzeugungen und Existenzformen nicht duldet, richtet sich im „war on terrorism“ nicht nur gegen den allgegenwärtigen äußeren Feind, sondern fordert auch Selbstdisziplin im eigenen Lager. Der freie Westen verordnet sich schärfere Gesetze und die möglichst vollständige Kontrolle seiner Bürger (natürlich nur zu ihrem Schutz). Sogar die Künstler werden in einem solchen „Klima“ normal; sie sagen es selbst und wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen es. Vorbei die Zeiten, in denen sich die Kreativität regellos entfaltete, mit Vorliebe nachts, wenn die braven Bürger schliefen, und gern auch unter Mithilfe von Medien und Instanzen, die den Kontrollverlust befördern, von Drogen aller Art über promisk-„perversen“ Sex oder eine Erotik rückhaltloser Hingabe bis zu einer religiösen Emphase, die dem gesunden Menschenverstand „transzendent“ ist. Passé und perdu! In creative-writing- oder composing-Kursen lernt man, dass Kunstproduktion ein Job wie jeder andere ist, am besten „nine to five“, ein Handwerk, das man erlernen kann und muss. Extreme Erfahrungen sind da eher hinderlich; das Internet hilft rascher und bequemer weiter. Ein amerikanisches Institut hat sogar festgestellt, dass glücklichen Menschen die Kunst besser von der Hand geht – und man kann vermuten, dass solche glückliche Kunst von glücklichen Menschen auch sozialverträglicher ist. Wo Schmerz und Leid mit Vorliebe wegtherapiert werden und abweichendes Verhalten jeder Art vor allem als Problem der einschlägigen Behörden erscheint, ist die Radikalität des „poète maudit“, vor der schon Plato warnte, endgültig fehl am Platz. Der „radikale Verlierer“ hat, bei Licht gesehen, nur zwei Optionen: Er muss sich durch eigene Anstrengung (zu der auch die Anstrengung, „normal“ zu werden, gehört) in einen Gewinner verwandeln. Oder er wird, im besten Fall, so lange „sicherheitsverwahrt“ bis er keine Gefahr mehr darstellt. „Radikale Verlierer“ unter den Künstlern haben es übrigens derzeit noch vergleichsweise gut. Was sich auf dem Markt oder „in der Quote“ nicht durchsetzt, fällt einstweilen „nur“ der Bereinigung der Verlags-, Radio- oder Konzertprogramme zum Opfer. Hartz IV mag prekär sein, ist aber immer noch besser als Beirut oder Guantanamo.