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Auf dem Bahnhof wie in der Opéra: in Lyon wird alphabetisch gezählt. Foto: mku

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Reihe 9 (#18) – Der Reiz des ersten Mals

Vorspann / Teaser

Heute ist es noch immer so wie einst. Von der Uraufführung eines neuen Werkes geht eine besondere Spannung aus. Weniger freilich für den Dirigenten, die Sänger und Musiker – sie haben die Partitur in der Regel schon lange mit spitzem Bleistift durchgearbeitet, einstudiert und gut geprobt. Anders für den Komponisten, der auf diesem Wege seine neue Schöpfung in die Welt setzt: Ihm geht es um Beifall und positive Resonanz, um die Aussicht auf weitere Aufführungen und Aufträge (es sei denn, es sollte ohnehin etwas anderes provoziert werden). 

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Das Publikum wiederum hat alles in der Hand – und zwar buchstäblich. Es kann gelangweilt, freundlich oder gar enthusiastisch applaudieren, es könnte aber auch die Hände als Schalltrichter für ein sattes „Buh“ um den Mund legen. In diesem Fall ist der Konjunktiv (könnte) freilich angebracht, denn wirkliche Skandale um ein neues Werk sind längst aus der Mode gekommen. Entweder, weil sich alle mit einem „anything goes“ abgefunden haben oder sich außerstande sehen, durch ein solch explizites Bekenntnis des Missfallens aufzufallen.

Vor allem die Gattung Oper war von Anfang an mit dem Reiz des Neuen umgeben. Nun allerdings ist das Repertoire längst kanonisiert. Ausgrabungen wie Zeitgenössisches haben es gleichermaßen schwer, einen der raren Plätze auf dem Spielplan zu ergattern – nicht erst heute, sondern auch schon in früheren Epochen. Umso denkwürdiger sind all jene Uraufführungen, die nicht nur zustande kommen, sondern in denen etwas gewagt wird, die sich engagieren, die verblüffen, berühren, erschüttern – oder nachdenklich stimmen. 

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GerMANIA von Alexander Raskatov, Inszenierung John Fulljames. Foto: © Stofleth/Opéra de Lyon

GerMANIA von Alexander Raskatov, Inszenierung John Fulljames. Foto: © Stofleth/Opéra de Lyon 

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So auch GerMANIA von Alexander Raskatov, eine Oper in zwei Akten mit zehn Szenen, basierend auf zwei Dramen Heiner Müllers: Germania. Tod in Berlin (1956/71) sowie Germania 3. Gespenster am toten Mann (1995). Dass sie nicht in Berlin oder Frankfurt, sondern am 19. Mai in der Opéra de Lyon erstmals über die Bühne ging, erscheint gleich doppelt ungewöhnlich: zum einen wegen des in deutscher und russischer Sprache gehaltenen Librettos, zum anderen wegen seiner „deutschen“ Thematik und ihrem stalinistischen Widerpart, die selbst zwar historisch geworden sind, die aber niemals mit all ihren Auswüchsen und Exzessen, der Negierung und Perversion des Humanen in Vergessenheit geraten dürfen. Es mag hingegen der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit geschuldet sein, dass dieser Abgrund von der nachgeborenen Generation nicht verschwiegen, sondern aufgearbeitet wurde. 

Und so ist Raskatovs GerMANIA hochaktuell, ein bewusster Gegenentwurf zur salonfähig gewordenen, unverfrorenen Geschichtsklitterung rechter Zündler (hier wie dort und andernlands), ein Gegenentwurf, der musikalisch durch seine dunkeldrohenden Farben, durch seine kantige Faktur, mit Zitaten, Entlehnungen und Allusionen versehen einen in dieser bildmächtigen höllischen Schau (Inszenierung: John Fulljames) nicht ratlos zurücklässt, sondern, ganz im Gegenteil, sich mitteilt und fassbar wird. – Mehrfach schon stand Alejo Pérez am Pult der Opéra de Lyon; auch an diesem aufrüttelnden Abend führte er Solisten, Chor und Orchester sicher gestaltend durch die Klanggewitter der Partitur. 

Über Reihe 9

Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

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