Beim Aufräumen findet man oft schöne Erinnerungen wieder. So kürzlich, als mir die auf einfachem Karton gedruckten, dreifach gefalteten Konzert-Saisonprospekte von vor knapp 25 Jahren wieder in die Hände fielen. Alt sind sie geworden, doch die Bleistift-Notizen haben sogar einen Wasserschaden überstanden.

Reihe 9 in Baden-Baden. Foto: mku
Reihe 9 (#2) – „… wo sind sie geblieben?“
Was aber waren das für Zeiten, als neben den Aktivitäten des städtischen Orchesters von einer privaten Konzertdirektion pro Saison nicht weniger als drei Abo-Reihen mit insgesamt 18 Konzerten angeboten werden konnten – in einer peripheren Stadt mit kaum einmal einer Viertelmillion Einwohnern. Und erst dieser pragmatische Minimalismus! Kommt doch die einfarbige Klappkarte ganz ohne Vorwort und werbende Texte aus, kein Foto, kein Sitzplan, keine der belanglosen Künstlerbiografien. Einfach nur Datum, Ausführende, Programm. Und am Ende die Abo-Bedingungen in nüchterner Kurzform. Heute ließe sich auf diese Weise kein Blumentopf gewinnen.
Ebenso faszinierend sind die Namen: nicht unbedingt die der Solisten und Dirigenten (viele von ihnen sind vergessen, einige erkennt man wieder), sondern vielmehr die der Städte, aus denen damals die Gastorchester kamen. Allein beim Blick auf die Saison 1993/94 reibt man sich die Augen: St. Petersburg, Kiew, Bukarest, Constanza, Budapest, Haarlem, London, Odense und Turku. Natürlich waren osteuropäische Orchester nach dem Fall des Eisernen Vorhangs günstig zu haben – sie brachten aber auch eine eigene Tradition und Spielkultur mit, die das Musikleben bereicherte. Am Ende des 20. Jahrhunderts lag das Fremde und Ferne noch lange nicht so nah wie heute.
2017 ist eine solche Vielfalt (auch der Programme!) kaum mehr zu finden. Dies gilt nicht nur für die Säle in den zahlreichen kleinen Großstädten, sondern auch für die Konzerthäuser mit Weltgeltung und den gern gesehenen Gästen aus Übersee. Letztere verirren sich nämlich kaum noch an entlegene Orte – wie kürzlich das Chicago Symphony Orchestra bewies (Paris, Aalborg, Hamburg, Baden-Baden, Frankfurt, Wien und Mailand), oder es im Mai das Sinfonieorchester aus Toronto tun wird (Wien, Regensburg, Prag und Essen). Allerdings konnte die Werkfolge beim CSO verblüffen, als neben Hindemith und Mussorgski auch eine gewichtige sinfonische Ouvertüre von Elgar erklang (In the South), eine Partitur, die Riccardo Muti schon 1986 mit dem Philharmonia Orchestra weitaus frischer dirigierte hatte.
Zu oft aber herrscht bei solchen Gastspielen der Repertoire-Alltag. Dies gilt auch für die aktuelle Kulturprozent-Classics-Saison, in der man neben den üblichen Verdächtigen gerne einmal auch etwas anderes hören würde: von Huber bis Honegger, von Beck über Martin und Raff bis Zbinden. Ob vielleicht die Auswahl aus diesem reichen Schweizer Fundus zu schwer gefallen ist? Tatsächlich in das Programm verirrt haben sich nur je ein Werk von Dieter Ammann und Richard Dubugnon – an zwei Abenden einer jeweils vierteiligen Konzertserie. Deutlicher lässt sich ein Feigenblatt kaum setzen.
Dabei gäbe es verblüffend viel zu entdecken – nicht nur im Repertoire, sondern auch an Klangkörpern der internationalen Umgebung. Warum nicht einmal den direkten Austausch wagen mit Turin, Lyon, Dijon, Mulhouse, Konstanz, Bregenz oder Innsbruck? Und das wäre jetzt, kaum vollständig, nur auf die Eidgenossenschaft bezogen. Sicherlich, solch eine Unternehmung wird neben den aktuellen unverzichtbaren Highlights auch Geld kosten. Aber man wird diese klingende Nachbarschaft als schöne Abwechslung ebenso zu schätzen wissen und womöglich seinen eigenen Radius erweitern. Kollegialität der Institutionen ist dabei gefragt, Idealismus und Ideenreichtum!
Über Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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