Es gibt im Leben Situationen, in denen sich wohl schon jeder gefragt hat: „Was wäre wenn ...“ – ein Gedankenexperiment, das sich zunächst auf die Gegenwart und Zukunft bezieht. Manchmal quälen einen solche Überlegungen indes im Rückblick gleich einem langen Schatten. Dem Historiker ist es freilich gleich: Er hält sich an das tatsächlich Geschehene mit seinen überlieferten Quellen. Nur findige Gedankenakrobaten oder neugierig querdenkende Menschen können der so genannten kontrafaktischen oder auch virtuellen Geschichte etwas abgewinnen – als intellektuelles Spiel.
Reihe 9 (#21) – Adel verpflichtet
Musikgeschichtlich ist das recht einfach zu fassen. Man stelle sich vor: Enrique Granados auf dem richtigen Dampfer, Max Reger als Veganer, Anton Webern als Nichtraucher – zugegeben: interessant. Was aber, wenn Bach auf der Reise nach Lübeck verunfallt wäre, Mozart 1767 die Blattern nicht überlebt hätte oder gar 1839 die Thetis vor Norwegen mit Mann und Maus im Sturm versunken wäre? Undenkbar!
Auch die auf den zweiten Blick unspektakuläre, weitgehend im Stillen verlaufende Biografie von Joseph Haydn steckt voll solcher Wegmarken: von der schönen Anekdote über die Entstehung des Streichquartetts op. 1/1 bis hin zum 1761 ergangenen Ruf zum Vize-Kapellmeister am Hof der Esterházys zu Eisenstadt. Und Hand aufs Herz: Ohne ihn und die Hofkapelle hätte sich nicht nur die Sinfonie anders entwickelt; auch die kleine Residenzstadt Eisenstadt würde heute in entschiedener Beschaulichkeit vor sich hin schlummern. Der Ort ist sich dessen vollauf bewusst, und die Unternehmungen der mit klugem Geist eingerichteten esterházyschen Stiftungen kommen um den genialen Kopf einfach nicht herum – auch wenn inzwischen die angesehenen und programmatisch genau zugeschnittenen, höchst erfolgreichen burgenländischen Haydn-Tage mit der im Frühsommer ergangenen Absage der 30. Saison bereits Geschichte geworden sind.
Eine Melange aus auslaufenden Verträgen, zu vermutenden Eigeninteressen sowie politischen Sach- und Schachzügen haben Platz geschaffen für ein neues Format: das insgesamt zwölftägige Herbstgold-Festival mit einer programmatischen Erweiterung hin zu Jazz, Gypsy und einem kulinarischen Wochenende. Zudem erklangen heuer unter dem Motto „Krieg und Frieden“ epochenübergreifend effektvolle wie rare Werke von Beethoven, Prokofjew und Tschaikowsky. Haydn hat zu solcher Thematik nicht viel beigetragen, außer seiner mahnenden Messe „in tempore belli“ (die allerdings nicht auf dem Spielplan stand), dafür fand sich neben vielem anderen aus dem umfangreichen Werkkatalog die Oper Armida (konzertant).
Vielleicht hätten das bewährte Silber und das herbstliche Gold auch nebeneinander bestehen können – während nun neben der herrlich moussierenden Prinzen-Cuvée eine weitere esterházysche Produktion sich anschickt, Hausmarke zu werden. Mit einer Namenswahl übrigens, die im Zeichen zunehmender Personalisierung (auch im Musikleben) überrascht.
PS. Auch in der Schweiz hat die Familie Esterházy kulturell fördernde Spuren hinterlassen, in Gestalt der 2005 von der letzten Universalerbin gegründeten Stiftung Melinda Esterházy de Galantha.
Über Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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