Nicht nur Opern können Geschichten erzählen. Gelegentlich spinnt sich auch um die Partitur eines Werks eine Geschichte, die selbst das Zeug zu einem Libretto hat. Gemeint sind freilich nicht jene Nacht-und-Nebel-Aktionen, bei denen der Komponist in höchster Zeitnot knapp vor der Uraufführung noch eine Ouvertüre aufs Papier geworfen hat – ein Umstand, der zu Spekulationen über schöpferische Prozesse einlädt. Was aber ist mit jenen Werken, die Fragment geblieben sind? Oder jenen, die nach der Premiere ins Abseits gerieten? Gar politisch motiviert abgesetzt wurden? Oder deren Uraufführung über viele Jahre hinweg verschleppt und verhindert wurde? Rasch fallen einem verschiedene Namen und Orte ein – historisch-werkspezifisch wie auch aus jüngerer Zeit mit Blick auf unbequeme Inszenierungen.
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Reihe 9 im Theater Gera. Foto: mku
Reihe 9 (#30) – Musik am Abgrund
Geht es um das Verschweigen, so dürfte die Oper Die Passagierin von Mieczysław Weinberg (1919–1996) an erster Stelle stehen: 1968 auf ein Libretto von Alexander Medwedew nach dem gleichnamigen Roman von Zofia Posmysz entstanden, erlebte die Komposition erst 2006 in Moskau ihre Uraufführung (konzertant), 2010 folgte die erste Inszenierung bei den Bregenzer Festspielen. Bereits Schostakowitsch soll recht doppeldeutig bemerkt haben: „Und abgesehen von seinen musikalischen Verdiensten ist dies ein Werk, das wir heute dringend benötigen.“ Und so machte die Oper auch jenen Angst, die genau verstanden, dass die mehrfach wechselnde Szenerie zwischen dem sorgenfreien Leben auf dem Nachkriegs-Dampfer der Südamerika-Linie einerseits und dem höllischen Vernichtungslager Auschwitz andererseits genauso gut für das sonnige Sotschi und den Gulag Perm-36 stehen könnte. Aber auch nach mehr als 50 Jahren hat Die Passagierin nichts von ihrer Bedeutung verloren – nicht allein weil mit zunehmender zeitlicher Entfernung immer weniger Augenzeugen ihre eigene Geschichte erzählen können, sondern weil uns in Gestalt der ehemaligen Aufseherin Lisa die Verdrängung des Gewesenen wie in einem Spiegel vorgeführt wird. Denn die Geschichte wiederholt sich, wenn auch in anderen Zusammenhängen, bis hin zur staatlich verordneten Formel „Wohlstand statt Freiheit“ im Reich der Mitte.
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Foto: Ronny Ristok
Welche Symbolkraft von der Passagierin ausgehen kann, zeigte die von Intendant Kay Kuntze zum 100. Geburtstag des Komponisten besorgte Inszenierung an den Bühnen der Stadt Gera – einem Ort übrigens, in dem kürzlich erst bei der Wahl des Stadtrats genau jene Partei als stärkste Fraktion hervorging, deren Vorsitzender sich vor einem Jahr dazu verstieg, Deutschlands dunkelste Zeit als „Fliegenschiss der Geschichte“ zu bezeichnen. Umso stärker wirkte die Szenerie mit ihren Bildern, die grossartige Teamleistung von Ensemble, Chor, Orchester, Ausstattung und Regie. Vor allem aber der Entschluss, am Ende auf Applaus zu verzichten – um letztlich auch wirklich niemandem zu applaudieren. Denn auf dem sich senkenden Vorhang setzt die Projektion einer fortlaufenden Namensliste der in Auschwitz Ermordeten ein. Nicht als illustrierendes Element, sondern mit der sich spürbar für jeden im Publikum stellenden Frage, wie damit umzugehen sei, und wann es angesichts der Millionen von Opfern überhaupt angemessen wäre aufzustehen. Die Entscheidung musste jeder für sich selbst treffen – und er wurde auf den Monitoren im Foyer vom fortlaufenden Epitaph nochmals eingeholt.
Das Gedenken und Mahnen liegt in der Verantwortung der nachkommenden Generationen, die davon auch nicht durch die „Gnade der späten Geburt“ zu befreien sind. Oder mit den letzten erschütternden Worten, der in Weinbergs Oper überlebenden Martha: „Ich werde euch nie und nimmer vergessen …“
Ihr
Michael Kube
REIHE 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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