Vorsichtig sind die Versuche, nach dem Lockdown wieder erste Schritte in die musikalische Normalität zu wagen. Die Abstandsregeln manchen es allen denkbar schwer: Bevor überhaupt ein allererster Ton erklingt, müssen umfassende Hygienekonzepte entworfen und genehmigt werden. Dabei sind auch Reihen und Sitzplätze genau zu vermessen, um nötige Distanz ins Auditorium zu bringen.

Hier lassen sich die Sitzplätze leicht abzählen: 9 Stühle pro Reihe im Frankfurter Hindemith-Kabinett. Foto: mku
Reihe 9 (#43) – 1:1
Dieses Vorgehen setzt sich auf der Bühne fort: Die Streicher haben derzeit alle ein eigenes Pult, die Holzbläser sitzen weiter entfernt, die Blechbläser hätten Voreilige am liebsten gleich ganz verbannt. Doch wissenschaftliche Studien haben gezeigt (Universität der Bundeswehr und Berliner Charité): Hier hat sich, entgegen der landläufigen Meinung und dem markerschütternden Höreindruck, der Luftstrom schon nach nur 50 cm beruhigt. (Weitere Angaben und Empfehlungen zum Bläsereinsatz in Corona-Zeiten finden sich hier.)
Entsprechend „bastelt“ gerade jedes Haus an eigenen Lösungen – zu einer Zeit, in der bereits zahlreiche Sommer-Festivals abgesagt wurden und Spielplan wie Broschüre für die kommende Saison längst geplant und präsentiert wurden. Da wird es Konzerte ohne Pause geben (damit man sich im Gedränge des Foyers nicht versehentlich zu nahe kommt), und groß besetzte Kompositionen fallen vorerst aus. Zugleich durchforsten alle Verlage ihre Archive nach gangbaren Alternativen. Mit dem schönen Nebeneffekt, dass nun wohl auch das Repertoire eine längst fällige Erweiterung erfahren wird. Berlioz’ Symphonie fantastique werde man in Berlin durch die Kammersinfonie für 23 Instrumentalisten von Franz Schreker ersetzen, wurde mir bei einem Kaffee zugeraunt.
Und der musikalische Nachwuchs? Auch da ist wohl erst einmal so ziemlich alles abgesagt, was das Ensemblespiel betrifft. Alles? Nicht im hohen Norden! Dort geht eine private Initiative einen anderen Weg. So hat sich in Flensburg gerade erst ein neues Jugendorchester zusammengefunden. Geprobt wird in einer 950 m2 großen, akustisch erstaunlich akzeptablen Busgarage. Ende August wird dann mit offenen Toren öffentlich konzertiert.

Nach dem 1:1-Konzert: die Klangfläche als Stillleben. Foto: mku
Dass sich Musik aber auch ganz intim erfahren lässt, zeigen seit einigen Wochen die sogenannten 1:1-Konzerte. Ein klingendes Tête-à-Tête für 10 Minuten, ohne Worte, doch mit stillem Dank. Auch Musiker aus dem Orchester der Frankfurter Oper haben sich im Juni daran beteiligt. An einem Spätnachmittag fügten sich so verschiedene Fäden zusammen: Dimiter Ivanov – als Konzertmeister des Orchesters auf einer Position, die vor genau 100 Jahren Paul Hindemith bekleidete – spielte im historischen Frankfurter Kuhhirtenturm, einst Hindemiths eigenwillige Wohnadresse, heute ein kleines Museum mit neusachlichem Musikkabinett, ein paar Sätze von Bach für mich allein als ganzes Publikum. Seltsame Fügung: Während ich diese Kolumne schreibe, übt im Nebenhaus eine Musikstudentin auf der Bratsche Hindemiths Solo-Sonate op. 25/1 …
Ihr
Michael Kube
REIHE 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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