Alle wollen, niemand kann. Und es drängen sich allmählich immer ernstere Fragen auf. Kein Mediziner sollte jemals vor eine Triage-Entscheidung gestellt werden, solange durch gemeinsames Handeln sich Inzidenz-Werte drücken lassen. Doch wie wird es mit der Musikkultur weitergehen?
Reihe 9 (#52) – Dauerquarantäne
Verlieren wir nicht bei fortwährender Kontaktbeschränkung selbst den Kontakt? Wie wird es etwa mit all den Chören weitergehen, die ohnehin schon auf der Suche nach jüngeren, engagierten Sängern waren? Werden auch sie ein Opfer der Pandemie sein – oder sind es schon längst geworden und wurden in aller Stille zur letzten Ruhe gelegt? Wie lange werden Kinder und Jugendliche ihr Instrument noch täglich zur Hand nehmen, wenn der Unterricht nur online erfolgt und ein Musizieren im Ensemble nicht möglich ist? Und wie ist es mit den großen und kleinen Bühnen und Orchestern? Wird in den kommenden Jahren die öffentliche Hand wieder einmal den Rasenmäher anwerfen und sich genau dort sanieren, wo der Aufschrei nur leise erfolgt?
Wenn es wieder losgeht – egal wann, aber jetzt wird geplant – darf es selbst unter besten Bedingungen kein bloßes Anknüpfen, kein „Weiterso“ geben. Hinsichtlich des Repertoires, der Formate und der Zugänglichkeit muss neu angesetzt werden. Mein Sorgenkind Nr. 1 bleibt indes das Repertoire, sofern in der Saison 2021/22 das weithin ausgefallene Beethoven-Jahr seine Fortsetzung findet. Oder wieder all jene Werke hervorgeholt werden, die landauf, landab schon in den beiden letzten Jahrzehnten wie Konfektionsware auf den Pulten lagen. Vielleicht aber hat sich ja der eine oder andere Maestro inzwischen einmal etwas anderes angeschaut? Mit Lust denke ich an die 1980er- und 1990er-Jahre zurück, als bei nahezu jedem Klangkörper auch in der Provinz noch viel mehr gewagt wurde, immer auch ein Werk der letzten Jahre oder Jahrzehnte auf dem Programm stand. Heute befinden sich in den Archiven zu viele Kompositionen in Dauerquarantäne. Dabei haben gerade die wenigen Wochen im Sommer und Herbst 2020 gezeigt, dass es auch anders geht – dass mit dramaturgisch wohlüberlegten Konzepten ein Auditorium auch mit Raritäten in bunt gemischten, vielfach etwas kleineren Besetzungen glücklich wird. Wie schön wäre es, nicht mehr auf die altbekannte Cellokantilene im Seitensatz zu warten, sondern sich wirklich überraschen zu lassen. Dann wird Musik wieder zum Impulsgeber, der Neugier weckt, Freiräume schafft und das eigene kreative Denken und Urteilen stärkt.
Ihr
Michael Kube
REIHE 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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