Aufbruch bedeutet auch, eine Krise als Chance zu begreifen – und dies nicht nur künstlerisch, sondern institutionell. Zwar ist in den vergangenen Monaten das Tor zu neuen Formaten weit aufgestoßen worden. Doch ging es dabei oft genug bloss um die eigene Präsenz (vom Wohnzimmer über die gemeinsame Kachel-Schalte bis hin zu digital übermittelten Bühnen-Events), während wirklich innovative hybride Konstellationen die Ausnahme blieben. Und nun? Wie soll es weitergehen? Feiern wir bald die Auferstehung der Abo-Reihen, der grossen Gastspiele und des Festival-Tourismus? Oder wird es zu einem Abbruch altbekannter Rituale kommen?

Innovative Sitzordnung in der Ausweichspielstätte (Pfarrheim St. Nikolaus, Murnau).
Reihe 9 (#56) – Musik sehen / Kunst hören
Während ich noch auf der Suche nach Antworten bin, flattern die ersten gedruckten Jahres- oder Quartalsprogramme ins Haus. Sie präsentieren sich nicht etwa vorsichtig tastend, sondern mit dem stolzen Selbstbewusstsein von einst. Da reiht sich unter dem verheissungsvollen Motto „Neugier“ doch schon wieder nur Sinfonie an Sinfonie, und rauschende urrussische Ballette sollen Weihnachtsfest und Jahreswechsel verzaubern helfen.
Wo aber findet in solch einem Set-up überhaupt noch zeitgenössische Kunst ausserhalb ihrer selbst schon traditionellen Experimentalwerkstätten statt? Wo erreicht sie jenseits des eigenen Zirkels ein Publikum, das durch eine ansprechende Präsentation neugierig wird und seine Ohren öffnet? Neue Möglichkeiten bietet derzeit das Festival code modern, wobei „Festival“ eher inhaltlich zu definieren ist, denn die in drei Reihen zusammengefassten fünfzehn Einzelveranstaltungen decken einen Zeitraum von sechs Monaten ab. Angesiedelt im bayrischen Südwesten trägt es Neue Musik in den ländlichen Raum. Anfang August nach Murnau, jenem Marktflecken, der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur „Aussenstelle“ des expressionistischen Blauen Reiters avancierte – gut dokumentiert in der ständigen Ausstellung des Schlossmuseums mit Werken von Gabriele Münther, Wassily Kandinsky, Franz Marc …

Vorstudien. Junge Komponistinnen und Komponisten in Murnau. Foto: Birgit Chlupacek.
Neben zwei Werken von György Kurtág und Minas Borboudakis standen drei Streichquartett-Uraufführungen junger und frühreifer, aus dem Wettbewerb „Jugend komponiert Bayern“ hervorgegangener Nachwuchskomponistinnen und -komponisten auf dem Programm. Ihren Partituren diente die aktuelle Sonderausstellung Punkt, Linie, Fläche. Die Kinderzeichnung und der Expressionismus als Inspirationsquelle: erfrischend unverkopft die Krokodiljagd von Maximilian Leicher (15), nachdenklich der trail von Elisabeth Fusseder (21) und soghaft-reif kalkuliert in einem Streichquartett mit Sampler bei Aydin Pfeiffer (22), gespielt von der glänzend vorbereiteten Quartettformation des Ensembles der/gelbe/klang. Am Ende war es ein bedeutender Vorteil, dass wegen des angesagten Regens frühzeitig aus dem geplanten Open Air im Schlosshof eine sehr konzentrierte Werkstatt im Pfarrsaal wurde. In der Akustik kammermusikalisch direkt und auch in der Bestuhlung einfach eine „runde Sache“.
Ihr
Michael Kube
REIHE 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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