Wenn im Konzert der letzte Ton verklungen ist: Was bleibt? Ich meine an dieser Stelle nicht die Emotionen, die vielleicht durch die Töne angesprochen wurden, die neuen Ideen, die man möglicherweise in diesem klingenden Freiraum gewonnen hat. Es geht mir vielmehr um die Frage der nachhaltigen Dokumentation des Ereignisses. Waren es einst Programmzettel, die ausgetauscht, im besten Fall gesammelt, vielfach aber eben auch makuliert wurden, so bieten heute Saison- oder Spielzeitbroschüren, unter bestimmten Voraussetzungen jedoch nurmehr Wayback-Webseiten einen halbwegs geordneten Blick in die jüngste Vergangenheit.
Reihe 9 (#68) – Unterm Radar
Was aber ist mit alle jenen Konzerten, die, einst wie heute, gleichsam «unter dem Radar» stattfinden, meist aber um vieles interessanter sind als die «regulären» Produktionen (und nur am Rande sei bemerkt, dass die entsprechenden Vorschauen auf die Saison 2022/23 vielfach ausgewiesene Langeweile versprechen). In der Romantik waren es die vielen halböffentlichen Darbietungen im Salon, deren Repertoire sich heute kaum mehr rekonstruieren lässt; im 20. Jahrhundert sind es die Konzerte der Laienensembles (deren Archive, wenn nicht verloren, so doch in der Regel nicht umfassend sind). Und selbst im fortschreitenden 21. Jahrhundert gibt es noch musikalische Veranstaltungen, von denen kaum jemand etwas erfährt oder erfahren wird – es sei denn, sie hinterlassen an anderer Stelle dann doch eine Spur. Dies betrifft etwa das «Konzert anlässlich des Beginns der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft 2022» in der Botschaft der Tschechischen Republik in Berlin. Das Programm bot neben einigem politischen Lametta (zum Motto «Europa als Aufgabe») und einer Rilke-Vertonung von Morten Lauridsen zwei Kompositionen des weithin vergessenen Miloslav Kabeláč (1908–1979): ein originell und stimmig besetztes Bläsersextett op. 8 und den wundervollen Liederzyklus Přírodě (Natur) op. 35 für Kinderchor mit Klavierbegleitung – ein Werk nicht ganz aus der Zeit des Pan Tau, aber es erinnerte an eine hervorragende Zeit tschechischer (Erzähl-)Kunst für die junge Generation, wundervoll gesungen vom Kinderchor der Deutschen Oper Berlin.
Von der Veranstaltung, zu deren Besuch man nur «auf Einladung» zugelassen wurde, wird am Ende nicht mehr bleiben als ein A4-Zettel und die Neugier auf das Werk eines vergessenen Komponisten. Weitaus präsenter ist da schon seit Jahrzehnten die Botschaft selbst: architektonisch interessant und (noch) mit originalem Interieur zu bestaunen. (Das Gebäude wurde im Stil des Brutalismus der 1970er errichtet und wird im unverbesserlichen Volksmund gern als «Ufo» bezeichnet.) Falls es zu einer Kabeláč-Renaissance kommen sollte, werden auch die dannzumal vergessenen Ereignisse dieses recht warmen Nachmittags vom 30. Juni 2022 dazu beigetragen haben.
Ihr
Michael Kube
REIHE 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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