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Ein Blick von oben in den Kopenhagener Konzertsaal, die Platzmarkierung für die Reihe 9 des zweiten Balkons steht im Vordergrund.
Ein Blick von oben in den Kopenhagener Konzertsaal, die Platzmarkierung für die Reihe 9 des zweiten Balkons steht im Vordergrund.
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Reihe 9 (#77) – B or G

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Klassik oder Classic? Eigentlich nur eine Frage für Puristen. Denn worum geht es wirklich im Klassik-Zirkus der vergangenen Jahre und Jahrzehnte? Doch wohl eher darum, auch junge Menschen, die vielleicht noch nie etwas von Schumann, Brahms & Co. gehört haben, für diese Musik zu begeistern. David Garrett hat dafür einen eigenen Weg eingeschlagen.

Es gibt Auftritte und Konzertformate, an denen sich die Geister scheiden. Dabei ist wohl eines sicher: Bei dem „klassischen“ Konzert mit all seinen liebgewonnenen Ritualen handelt es sich inzwischen nur noch um eines unter vielen möglichen Formaten, um große Musik der letzten Jahrhunderte und der Gegenwart live zum Klingen zu bringen. Längst schon treten etablierte Sinfonieorchester im übertragenen Sinne „abgefrackt“ auf, also ohne den steifen Pinguin; wenngleich nicht für immer, so doch in bestimmten „casual concerts“. Wer diese Entwicklung verfolgt, kommt leider zu keinem klaren Ergebnis: Wird hier bloß ein leichter Einstieg geschaffen, um neue Abonnenten fürs Altbewährte zu gewinnen, oder etabliert sich Schritt für Schritt eine Parallelwelt auf dem Podium, sozusagen eine erhoffte „zweite Erde“, nachdem man mit der ersten nicht allzu pfleglich umgegangen ist? Klar: Eine Frage mit offenen Antworten – aber auch mit Lust auf neue Versuche und Lösungen. Dabei gilt für mich nach wie vor: Der Star sollte immer die Musik selbst sein.

Das ging mir auch durch den Kopf bei einem (wirklich) zufälligen Besuch eines Konzerts von David Garrett im radioeigenen Konzerthaus Kopenhagen – in jenem eher gemütlichen Weinberg-Saal, von dessen Foyer man aber den Eindruck hat, es sei nicht recht fertig geworden (aber das wäre ein anderes, eher architektonisches Thema). Um für einen Moment dennoch den Beckmesser zu mimen: Das Streichorchester wurde aus der Konserve zugespielt, die Lightshow erschien bei diesem Gastspiel eher unterprobt (Vivaldis Winter in rotem Licht), aber auch in den Stimmung suggerierenden E-Candles auf der Bühne waren schon zu Beginn des Abends einige Akkus „down“. So weit, so gut, so… – Doch nein. Als David Garrett (geboren übrigens in Aachen unter dem bürgerlichen Namen David Bongartz) nach der Pause Schumanns „Träumerei“ ohne den Tonabnehmer anstimmte, zeigte sich seine wahre Kompetenz auf dem Instrument, tonlich wie interpretatorisch. Schade, wollte man rufen, warum nur da!? Aber so will es nun mal das Schicksal des einmal eingeschlagenen Weges: Auch die Fangemeinde möchte bedient werden. Und so verging der restliche Abend eben doch wieder „plugged“ – mit deutlichen Punktabzügen, wenn es um die Feinheiten ging. Wer aber nun ein bloß gefälliges Aneinanderreihen bekannter Stücke erwartete, wurde angenehm überrascht. Denn David Garrett weiß nicht nur in seiner Moderation zu differenzieren, sondern auch Werke abseits des Repertoires mit ins Programm aufzunehmen, etwa Raffs Cavatina op. 85/3.

Das Konzert ist nun mehr als drei Wochen her, der unmittelbare emotionale Eindruck hat sich somit gelichtet. Was bleibt, ist die Überlegung, ob es nicht doch ganz unterschiedliche Zugänge zur „Klassik“ und den „Klassikern“ gibt. Und diese sind so breit gefächert wie das Auditorium selbst. Es wird am Ende keine breite goldene Straße geben, sondern nur qualitative Basisarbeit in unterschiedlichen Formaten, und dies möglichst live: in der Schule (im Unterricht) oder im Konzertsaal (mal erschwinglich, mal hochpreisig), mit Originalwerken oder in Arrangements. Es darf am Ende keinesfalls um die einheitliche Ausrichtung gehen, sondern um die Wahrnehmung jedes Einzelnen, wieviel Erkenntnis, Kraft und Trost man aus der Musik selbst schöpfen kann. Und genau das öffnet dann auch die Ohren für mehr.


  • Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

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