Nun ist an Neujahr der Rückblick in die Geschichte selbst zur Geschichte geworden. Was alles 2023 auf das Jahr 1923 bezogen wurde, war schon verblüffend. Dabei gab es aktuell weder eine alles entwertende Hyperinflation (auch 1992 lag diese bei 5 Prozent, was aber im Dusel der Wiedervereinigung wohl keiner bemerkte), noch flächendeckende Entlassungen (heute besteht Fachkräftemangel). Noch erstaunlicher war der musikalische Hype um das Jahr 1923 – ablesbar an Büchern, CD-Produktionen und Konzerten.
Reihe 9 (#85) – 1923
Zum Glück hat dieser Hype die Kulturschaffenden dann doch nur en miniature ergriffen. Eine ernsthafte Diskussion über die Gründe, warum bisher andere Jahre und Jahrgänge weniger im Mittelpunkt standen (und wohl auch weiterhin stehen werden), hätte freilich auch Aspekte des Marktes zu berücksichtigen. Nur so wäre zu verstehen, dass den musikalisch von suchender Aufbruchstimmung durchzogenen Jahren 1921 und 1922 keine auch nur vergleichbare Aufmerksamkeit zukam und das aktuell anstehende Jubeljahr 1924 absehbar ohne Resonanz bleiben wird. Bereits am 2. Mai 2022 titelte Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung ironisch: Auch 1925 ist noch frei – damals ging es um eines dieser Jahrbücher, das literarischen Klassikern gewidmet ist (Joyce, Eliot, Rilke, Proust, Woolfe). Dieser kalendarischen Falle entzog sich Tobias Bleek in seinem musikalischen Jahresportrait glücklicherweise mit umsichtigem Weitblick, auch wenn der Band unter dem Titel Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme in den Handel kam und damit eine Fortsetzung suggeriert, die es wohl kaum geben wird.
Anders das Label BR Klassik. Dort wird gerade eine Reihe unter dem Motto Der wilde Sound der 20er aufgelegt – erschienen sind bisher allerdings nur drei Alben (zweimal zu „1923“, einmal zu „1929“). Auf Bühne und Podium war das Jahr 1923 gefühlt noch weniger präsent. Zieht man einmal Werke wie die Lyrische Sinfonie von Alexander Zemlinsky, die Sinfonie Nr. 6 von Jean Sibelius oder den Einakter Jardin de Oriente von Joaquín Turina ab, so bleiben nur wenige „namhafte“ Kompositionen und Komponisten übrig; dazu reicht schon ein Blick in die von Schwarmintelligenz und Ameisen-Umtriebigkeit erstellten einschlägigen Listen bei Wikipedia. Entsprechend kam der als Dokumentarisches Sinfoniekonzert 1923 bezeichnete, mit Licht und Conférencier inszenierte Abend des Orchesters der Komischen Oper Berlin unter James Gaffigan im Schillertheater ohne große Überraschungen aus – es sei denn, man reibt sich in einem „Sinfoniekonzert“ beckmesserisch an kammermusikalischen Einlagen, Operetten-Arien oder Schlagern. Denn es waren dort außer der für 1923 geradezu zwingenden Création du monde von Darius Milhaud und der Tanz-Suite von Béla Bartók auch Auszüge aus dem Klaviertrio op. 120 von Gabriel Fauré, dem (frühen) Quodlibet op. 9 von Kurt Weill, dem Ballett Le Marchand d’oiseaux von Germaine Tailleferre und dem Klaviertrio op. 8 von Schostakowitsch zu hören. Bei den Schlagern galt es freilich ein Auge zuzudrücken: Sowohl Otto Reutters seltsam aktuelles Couplet „Es geht vorwärts“ wie auch Robert Seidls „Wir versaufen unsrer Oma ihr klein’ Häuschen“ stammen aus dem Jahr 1922, „Wer wird denn weinen, wenn man auseinander geht“ von Hugo Hirsch gar von 1920. Geschenkt – wenn man den Abend als eher unterhaltsames denn historisches Kaleidoskop sieht.
- 1923 in der HörBar #104 der nmz
- Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!