Hauptbild
Zahlenmystik. Die „9“ ist auch dabei. Foto: mku

Zahlenmystik. Die „9“ ist auch dabei. Foto: mku

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Reihe 9 (#87) – 9 × 71 = 639

Vorspann / Teaser

Es schwebt ein Hauch zeitlicher Entgrenzung durch den Raum der alten St. Burchardi-Kirche in Halberstadt. Wer nur in seiner eigenen biographischen Reichweite denkt, wird hier enttäuscht. Wer aber darüber hinaus eine Per­spektive entwickelt, wird belohnt: Der lange Atem der Zeit ist hier für einen Moment greifbar, das eigene Sein erscheint daneben wie ein Wimpernschlag.

Autor
Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Wenn in Halberstadt beim „John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt“ ein „Klangwechsel“ ansteht, dann entfaltet dieser Moment eine eigene Dimension: Man wird Zeuge einer nur kleinen Veränderung, deren Resultat für Monate und Jahre anhält. Dieser eine Augenblick wird dann zum Event (sogar die Tagesthemen berichteten diesmal ausführlich) – wohingegen die unendlich scheinende Zeit nach dem „Klangwechsel“ wieder aus dem Blick- und Hörfeld gerät.

In einer Zeit, die in Ansätzen beginnt, ihre eigene Schnelllebigkeit ein wenig zu überdenken, erscheint das ASLSP in der Klosterkirche aus dem 11. Jahrhundert bereits wie ein Zentrum der Langsamkeit. Es ist eine wie Wallfahrt zum Nullpunkt der Zeit, dem Stillstand, der inneren Einkehr, und man sinniert unweigerlich über das eigene Werden, Sein und Vergehen. Demütig kann man in den alten Mauern werden, denkt man an die zeitlichen Dimensionen, die hier klanglich erfahrbar werden: beginnend 2001 nur mit Blasebalg und Wind, seit 2003 mit Tönen auf dem im Maßstab 1:5 verkleinerten Gerüst der Faber-Orgel (einem einstigen Blockwerk im Halberstädter Dom) aus dem Jahre 1361. Ihre Einweihung bildet den konzeptionellen Ausgangspunkt, das Jahr 2000/01 aber die Spiegelachse zum fernen Ende der beim Wort genommenen Aufführung von John Cages as slow as possible: 1361–2000/01–2640. In Zeiten des wohl für jeden ganz individuell und auf jeweils andere Weise fühlbaren Klimawandels stellen sich bei solchen Dimensionen aber auch Fragen wie: Wie und wo werden unsere Nachkommen dann leben? Und wie wird es überhaupt um den historischen Bischofssitz am nördlichen Harz landschaftlich bestellt sein? 

Embed
Text

Dass sich immer Menschen für die Fortsetzung dieses Projekt engagieren werden – dessen bin ich mir ziemlich sicher. Es ist die kaum greifbare Strecke zwischen dem Gestern, Heute und Morgen, die die Generationen verbindet und verbinden wird. Man darf aber auch größer denken. Wie wird man dereinst über uns und das frühe 21. Jahrhundert denken? Wer wird das „Final-Ticket“ einlösen? Und vor allem: Wird man dann über eine Wiederholung der Aufführung nachdenken? Was mich persönlich beruhigt: Nach Aussage des Kuratoriums ist die GEMA aus dem Projekt raus. Die Abrechnung geschützter Werke wird immer erst nach Abschluss einer Aufführung erstellt. Angesichts der zeitlichen Perspektive hatten da selbst die Bürokraten ein Einsehen…

 

  • Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!