Sucht man nach Verbindungslinien zwischen Bach, Mozart und der Zauberflöte, stößt man auf allerlei pseudogelehrten Gedankenschwurbel. Unweigerlich kommt der Gesang der Geharnischten ins Spiel – und damit auch der von Mozart verwendete lutherische, noch immer tief seufzende Cantus firmus „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“. Aber einmal Hand auf’s Herz! Wer hat in einer Opern-Vorstellung an dieser Stelle schon einmal ernsthaft auf den Text (und ich meine hier: Schikaneders Libretto) geachtet?
Reihe 9 (#88) – Beschwernisse
Dresden ist mit dem Fernzug nicht gut angebunden – und das seit Jahren. Man kommt am Abend nicht mehr recht weg, manchmal auch nicht wirklich hin. Wer das Auto nimmt, fordert ebenfalls sein Glück heraus. Hier war es nun nicht die legendäre A9 – und dennoch durfte ich mich an jenem Tag (fast wie Tamino) gleich drei Prüfungen unterziehen (einschließlich eines brennenden LKW). Als die Ouvertüre zur Zauberflöte um 19 Uhr aus dem Graben der Semperoper heraus erklang, war noch immer Stau. Doch wer regelmäßig mit der Bahn fährt, den kann solch eine Verspätung auf der Autobahn nicht mehr schrecken. Und statt zu verzweifeln, gedenkt man lächelnd all jener Fahrgäste, die stets nörgeln, dass man auf den eigenen vier Rädern doch schneller wäre. Am Lenkrad unterliegt man eben gern der Illusion, alles in der Hand zu haben – während man im ICE sanft ins Reich der Träume gleiten kann, ohne die Spur zu verlieren.
Am Ende reichte es dann gerade für den II. Akt. Der so vollzogene eilige Wechsel vom elenden „Draußen“ ins edle „Drinnen“ macht dann besonders aufmerksam für die Gesten der Protagonisten und die vielen kleinen Details einer Inszenierung, die bereits im November 2020 Premiere hatte und als Dauerbrenner im Spielplan etwas von ihrer Frische verloren hat: Da wäre etwa die Königin der Nacht, die wohl nicht recht eingewiesen worden war (das f3 allein reicht nicht, zumal wenn damit die Tessitura überschritten ist), dann ein spielfreudiger Papageno, den die Regie an die Kette angelegt hatte, sowie eine Papagena, der man stimmlich ihre „18 Jahr und 2 Minuten“ nicht ganz abnehmen konnte. Dennoch eröffnete das Bühnenbild mit dem Gerippe eines hochkant gestellten, leuchtenden Quaders eine frei assoziierbare Perspektive, bevor am Ende dann doch alles vom „Licht der Erkenntnis“ überstrahlt wurde. Selten habe ich mich aber von den beiden Geharnischten so direkt angesprochen gefühlt wie an jenem Abend: „Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden“.
Daraus ist – rein pragmatisch – folgendes abzuleiten: 1) Bei der Anreise, egal mit welchem Verkehrsmittel und unter welch harten Prüfungen, niemals verzagen, auch wenn es absehbar spät wird. 2) In jedem Fall den II. Akt besuchen, statt frühzeitig an die Hotelbar abzubiegen. 3) Das solches Hineinspringen öffnet mitunter die Augen für die kleinen Dinge.
Am Ende gab es im ausverkauften Haus tosenden Applaus und einige „Bravos“. Doch das Publikum war nur für einen kurzen Moment enthusiasmiert – und musste rasch zu einem zweiten Vorhang gezwungen werden. Seltsame Zeiten. Nicht einmal mehr auf den Applaus bei einer touristisch attraktiven Repertoirevorstellung kann man sich verlassen …
Über REIHE 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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