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Einfache Holzstühle bilden Sitzreihen. Die Wände des Saals sind rot gestrichen.

Reihe 9, Sala Czerwona (Roter Saal), Narodowe Forum Muzyki (Breslau). Foto: mku

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Reihe 9 (#94) – Kosmos Krzyżowa

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Es gibt kaum eine Quadratmeile in Europa, auf der nicht Spuren der Geschichte zu finden sind. In manchen Städten sind es manchmal ganze Straßenzüge, die von vergangenen Zeiten erzählen, in ländlicheren Regionen ist man eher auf historische Besonderheiten oder Zufälle angewiesen. So auch im polnischen Krzyżowa (Kreisau). Mehrere Umstände aus Vergangenheit und Gegenwart führten vor nunmehr zehn Jahren zur Gründung von „Krzyżowa Music“, einem Kammermusikfestival in Niederschlesien, das sich in jeder seiner Facetten von anderen unterscheidet.

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Das niederschlesische Kreisau, heute ein Dorf mit etwas mehr als 200 Einwohnern, hat mehrfach Geschichte geschrieben – eine Geschichte, die in Etappen aufeinander aufbaut und heute von Erbe und Verpflichtung erzählt. Den Anfang machte der preußische Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke, der 1867 das ehemalige Gut als Alterssitz erwarb. Hier ließ er am 21. Oktober 1889, nur wenige Tage nach Reichskanzler Bismarck, als einer der ersten Deutschen seine Stimme auf einem Edison-Phonographen verewigen. Als ein Jahr später Kaiser Wilhelm II. zu Moltkes 90. Geburtstag anreiste, wurde ein kleiner Bahnhof gebaut, der den Ort auch heute noch mit der weiten Welt verbindet. Anfang der 1940er Jahre versammelte Helmuth James von Moltke auf dem Gut eine zivile Widerstandsgruppe, den „Kreisauer Kreis“, am 12. November 1989 fand hier die symbolträchtige deutsch-polnische Versöhnungsmesse statt. In der Folge wurde in Krzyżowa eine gemeinsame Jugendbegegnungsstätte gegründet. Die grundsanierte Gutsanlage blüht seitdem wieder auf.

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Ein kleines Häuschen, grüne Wiese, ein einzelnes Gleis und ein blaues Schild: Krzyżowa

Wie zu Kaisers Zeiten: der kleine Bahnhof Krzyżowa. Foto: mku

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Dass hier alljährlich im Sommer das Kammermusikfestival „Krzyżowa Music“ seine Basis hat, ist Matthias von Hülsen zu verdanken, der trotz seines Alters mit einem fast jugendlichen Engagement gesegnet ist (er war auch einer der Gründungsväter des SHMF und der Musikfestspiele MV). Die Legende besagt, dass für „Krzyżowa Music“ eine einzige Serviette genügte (während bekanntlich Steuererklärungen auf dem Bierdeckel bis heute nicht zu realisieren sind). Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Als Kleinkind und Vollwaise aus Berlin evakuiert, verbrachte von Hülsen während des Zweiten Weltkriegs einige Monate in Kreisau; später wurden die privaten Bande noch enger geknüpft…

Was wie eine Familien-Saga in vielen Folgen aus dem Vorabendprogramm anmutet, ist freilich Realität. Und wohl nur aus dieser Geschichte heraus ist „Krzyżowa Music“ zu denken und zu verstehen. Hier wird nicht nur Musik „gemacht“, sondern auch Gemeinschaft gelebt: Ein stimmiges System von Seniors, Juniors und Mentors (mit Viviane Hagner als künstlerischer Leiterin) fördert die individuelle Entwicklung der Musiker:innen, die bekannte Kluft zwischen Bühne und Auditorium wird schon bei der ersten gemeinsamen Mahlzeit überwunden. Außerdem kommen bei Gesprächsrunden (musik)politische Themen zur Sprache, unaufgeregt und direkt. 

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En Klaviertrio spielt in einem rot beleuchteten Saal mit aufwändigen Schall-Panelen an der Rückwand die aus stark vorstehenden geometrischen Formen bestehen.

Brahms im Roten Saal (ohne Roten Igel). Foto: mku

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Wer erstmals in einem der angrenzenden Wohnhäuser wohnt, ist vielleicht überrascht, schätzt dann aber die offenen Begegnungen umso mehr – und die sich rasch einstellende gedankliche Freiheit. Musik gab es auch, und zwar nicht nur das bekannte Standardrepertoire. In Erinnerung bleiben beglückende Vortragsabende mit Raritäten und wechselnden Besetzungen in Kreisau: etwa Erwin Schulhoffs Streichsextett (atemraubend fulminant gespielt), die Klänge in der spektakulären barocken Friedenskirche in Świdnica sowie ein umjubeltes Konzert im „Roten Saal“ des Breslauer Musikforums. Ein Kammermusikfest der besonderen Art.

Reihe 9

Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

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ein aufwändiger Saal mit vielen schnörkeligen Verzierungen in hellen und dunklen Farben.

Barocke Schatzkammer. Die Friedenskirche in Świdnica. Foto: mku

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