Bereits seit dem 17. Jahrhundert existiert das Modell öffentlich zugänglicher Bibliotheken, nicht zuletzt als Gegenmodell zu den abgeschotteten Kloster- und Hofbibliotheken. Emblematisch jene Szenen aus Umberto Ecos „Name der Rose“, in dem die Zugänglichkeit zu gewissen Büchern über Leben und Tod entscheiden und die Differenz von scholastischer Dogmatik und aufgeklärtem Bewusstsein markieren. In „De Bibliotheca“ skizziert Eco seine Idealbibliothek nach Art der Bouquinisten am Seineufer, wo ein absichtsloses Stöbern etliche Trouvaillen zu Tage fördere und man lustvoll dem Abenteuer des Wissens frönen könne. Das Schlimmste aber werde kommen, wenn eine Zivilisation der Lesegeräte die Zivilisation des Buches total verdrängt haben werde.
40 Jahre später scheint genau dies eingetreten zu sein. „Bibliothek der Zukunft: Und wo sind die Bücher?“, fragte Simon Strauss 2015 in der FAZ. Am Beispiel der größten Bibliothek Skandinaviens in Aarhus illustrierte er einen fundamentalen Funktionswechsel im Bibliothekswesen: weg von einem Ort der Bildung, in dessen Zentrum die Informationsbeschaffung und Bildungsgewinn durch Bücher stand, hin zu einem Ort der Gemeinschaftserfahrung durch Freizeitangebote und Veranstaltungen, bei denen kein Kunde befürchten müsse, „von Bücherwänden erschlagen zu werden“.
Auch die öffentlichen Bibliotheken Berlins scheinen diesem Trend zu folgen. Wo einst prall gefüllte Regalmeter den Raum ausfüllten, gähnt heute eine Leere, die durch Sitz- und Arbeitsgelegenheiten nur mühsam kaschiert werden kann. Tausende von Standardwerken der Belletristik und der Geisteswissenschaften mussten Ratgeber-Bestseller-, Hörbuch- und DVD-Sammlungen weichen. Auf Nachfrage wird mitgeteilt, dass die Nutzer-gewohnheiten sich nun mal geändert hätten und man selten entliehene Titel nach einigen Jahren makuliere (vulgo: entsorge). Dem Einwand, dass eine Bibliothek doch zu allererst ein Ort der geistigen Anregung und des kulturellen Gedächtnisses sei, wird mit dem Hinweis auf Kundenorientierung und die ominöse Kosten-Leistungsrechnung begegnet.
Zutiefst irritiert hat mich allerdings der Zustand der einst stadtbekannten Musikbibliothek im bürgerlichen Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Jahrzehntelang Pilgerstätte und Sozialisationsort musikbegeisterter Laien und Berufsmusiker, hielt sie eine von kundigen Musikbibliothekar*innen hervorragend kuratierte Sammlung an Instrumental- und Vokalwerken aller Epochen und Gattungen, eine reiche Auswahl an Musikliteratur, Nachschlagewerken und Tonträgern bereit – alles eben, was das Musikerherz begehrt.
Heute lassen Umrisse von Staubspuren in den locker befüllten Regalen die einstigen Schätze nur erahnen: wenig Taschenpartituren und Kammermusik, unauffindbar die einst so vorbildliche Rubrik mit russischen Klavierwerken und selbst beim Standardrepertoire und den Tonträgern regiert der Mut zur Lücke. Ein Blick in die Bibliotheks-statistik erhärtet den Eindruck: waren 2017 noch 77.906 Medien im Bestand, so sind aktuell lediglich 66.707 – ein Rückgang von immerhin fast 15 Prozent in 5 Jahren! Die vordergründig noch stattlich wirkenden Zahlen können aber kaum die inhaltlichen Verschiebungen verdecken: von E zu U, von rar zu populär. Das lässt für die Zukunft nichts Gutes erahnen.
Selbst an einem Flaggschiff wie der Musikabteilung der Berliner Zentral- und Landesbibliothek scheint der Veränderungsfuror nicht spurlos vorübergegangen zu sein. Der mit Noten, Büchern und Tonträgern reich bestückte Freihandbereich, musste Film-Sehplätzen und DVD-Sammlungen weichen und ist seither nur noch im Magazin zugänglich. Auch konzeptionell scheint das oben beschriebene Aarhuser Modell Pate gestanden zu haben: „Hier teilt die Stadt ihr Wissen, hier trifft man sich zum Austausch und Diskurs, hier wird Teilhabe in der analogen wie auch in der digitalen Welt aktiv gelebt.“ Das Wie scheint hier deutlich wichtiger als das Was.
Damit aus dem Teilen aber auch Teilhabe wird, bedarf es einer sorgfältigen Auswahl an Bildungsgütern, an denen sich der Prozess der Selbstbildung vollziehen kann. Primär sollte es dabei um die Bildungs- und nicht um die Unterhaltungsqualität gehen. Denn auch hier gilt, was für Schulen und Universitäten, aber auch für den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk gilt: nicht Quote, sondern Qualität ist der Maßstab des Erfolgs. Ihre Daseinsberechtigung bemisst sich nach ihrem Beitrag zur kulturellen Daseinsvorsorge. Daher der dringende Appell: Rettet die (Musik-)Bibliotheken als Gedächtnis unserer Herkunft und Laboratorium unserer Zukunft.